Zwei Stockwerke unter dem Neuenheimer Feld herrscht zeitweise so viel Verkehr wie an der Oberfläche. Hier – auf Ebene 98 – radeln Techniker:innen auf senfgelben Fahrrädern durch lange Gänge, Elektroschlepper kündigen sich hupend an, bevor sie mit ihren Anhängern um eine Ecke biegen und die wenigen Fußgänger:innen bewegen sich unbeeindruckt neben den vielen schwebenden Wägen, die von einer autonomen Transportanlage in die verschiedenen Kliniken befördert werden.
Dass Tunnelsysteme die Gebäude des Campus miteinander verbinden, ist kein Geheimnis. Da jedoch nur die wenigsten Studierenden sie jemals betreten werden, ranken sich viele Mythen um die Anlage – unhaltbare Spekulationen, die dem seriösen Charakter der Universität zuwiderlaufen.
Der Ort lädt nämlich auch dazu ein, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Die Vorstellung, durch schummrige Katakomben zu schleichen, erinnert an einen Dan-Brown-Roman, und die Campus-Ästhethik zwischen Brutalismus und Industrie-Tristesse lässt eine Einrichtung aus „Half Life“ vermuten, in der verrückte Wissenschaftler:innen riskante Experimente durchführen. In einem Regionalkrimi der Autorin Hannah Corvey sind die Tunnel sogar Schauplatz eines Mordes.
Die Realität ist weniger abenteuerlich: „Es handelt sich um kein Gewölbe, sondern um eine technische Einrichtung, die wichtig für die Infrastruktur des Klinikums und der Universität ist“, erklärt ein Mitarbeiter der Klinik-Technik-GmbH, die für die Tunnel zuständig ist.
Zugleich betont er die Gefährlichkeit des Ortes, so gebe es dort starke Magnetfelder, 20 000-Volt-Leitungen und Heißwasserrohre, die Temperaturen bis zu 170 Grad Celsius erreichen. Die komplette Medienversorgung des Campus – Strom, Wasser, Gase, Kommunikation, Wärme – erfolge über die Tunnel. Deshalb sei das Betreten für Unbefugte streng verboten.
Das Herz der Infrastruktur des Neuenheimer Felds ist das Versorgungszentrum Medizin im Norden des Campus. Neben dem Unterhalt der universitären Gebäude werden hier weitere Dienstleistungen für die Kliniken erbracht: Täglich werden 4500 Mahlzeiten für Patient:innen gekocht und 14 Tonnen Wäsche gewaschen. Medikamente werden abgepackt, medizinisches Besteck sterilisiert und 11 Tonnen Müll entsorgt. In dieser Einrichtung liegt der Zugang in die Tunnelstruktur, die sich unter den Kliniken ringförmig über zwei Etagen erstreckt und die restlichen Gebäude jenseits des Theoretikums über enge Kriechtunnel verbindet.
Ebene 99 – das erste Untergeschoss – dient vorrangig dem Personen- und Warenverkehr. Sie verbindet die Kliniken in einem Patientengang miteinander, beherbergt auch Operationssäle und wird anderswo als normaler Keller benutzt. Im Theoretikum befinden sich dort Technikanlagen, Entsorgungsmöglichkeiten für chemische und radioaktive Abfälle und das Zentrallager, quasi ein Supermarkt für Campus-Angehörige, in dem Forschende Laborutensilien und Chemikalien erwerben können.
Darunter befindet sich Ebene 98. Dieser Bereich ist der Öffentlichkeit unzugänglich und eine reine Technik- ebene. Hier verlaufen die Rohre und Leitungen für die Medienversorgung. Fehlende Wegweiser erschweren die Orientierung, Fahrzeuge und Maschinerie stehen in Einbuchtungen und hinter verschlossenen Türen führen Gänge ins Unbekannte. Es gibt Müllsauganlagen und ein Rohrpostsystem, über das sich Proben direkt aus dem OP ins Labor schicken lassen.
Die Automatische-Wagen-Transportanlage (AWT) ist beeindruckend: eine autonome Elektrohängebahn, die Essenswägen und Transportkäfige zwischen Versorgungszentrum und Kliniken hin und her befördert, über Aufzüge sogar direkt ins gewünschte Stockwerk fährt und die Wagen zwischendurch in einer Waschanlage reinigt. Etwa 100 Fahrwerke sind vollautomatisch in einem Netz von acht Kilometer Länge unterwegs.
Die Versorgung des Neuenheimer Felds ist komplex und in weiten Teilen von der städtischen Infrastruktur unabhängig. Es gibt eigene Brunnen und bei Stromausfällen sind 17 dieselbetriebene Notstromaggregate innerhalb weniger Sekunden bereit, die Einrichtungen 24 Stunden lang mit Elektrizität zu versorgen. Auch während Netzwischern – kurze Spannungseinbrüche im Stromnetz – muss der reibungslose Betrieb von Servern, Laborequipment und lebenserhaltenden Geräten sichergestellt sein.
Überwacht werden die AWT und die restliche Gebäudetechnik in der zentralen Leitwarte im Versorgungszentrum. Bei Störungen sowie für Wartungsmaßnahmen und Installationen machen sich Handwerker:innen von dort aus auf den Weg, aufgrund der kilometerlangen Tunnel nehmen sie dafür meist das Rad.
Wer auf Ebene 98 unterwegs ist, tut das nicht zum Spaß, denn es ist unübersichtlich, die Wege sind lang und es gibt viele dunkle Ecken. Allen Einblicken zum Trotz: Die verzweigten Tunnel bleiben mysteriös, und nur wer sich hier wirklich auskennt, weiß auch um ihre Geheimnisse.
Von Philipp Rajwa und Nicolaus Niebylski
...hat in Heidelberg Informatik studiert und war zwischen 2020 und 2023 Teil der ruprecht-Redaktion. Ab dem WiSe 2021 leitete er das Feuilleton und wechselte im WiSe 2022 in die Leitung des Social-Media-Ressorts. Im Oktober 2022 wurde er zudem erster Vorsitzender des ruprecht e.V. und hielt dieses Amt bis November 2023.
Nicolaus Niebylski studiert Biowissenschaften. Beim ruprecht ist er seit dem Sommersemester 2017 tätig – meist als Fotograf. Er bevorzugt Reportagefotografie und schreibt über Entwicklungen in Gesellschaft, Kunst und Technik. Seit November 2022 leitet er das Ressort Heidelberg. Zuvor war er, beginnend 2019, für die Ressorts Studentisches Leben, PR & Social Media und die Letzte zuständig, die Satireseite des ruprecht.