Es fing mit dem Aufstieg des Wunderkinds Magnus Carlsen an, der Anfang der 2010er-Jahre nicht nur jedes Turnier gewann, sondern modelte, Firmen gründete und Apps programmierte. Das professionelle Schachspiel, bis dato eine Geheimwissenschaft im Laboratorium des rationalistischen Intellekts, wurde zwecks Kommerzialisierung nahbar gemacht.
Seinen Siegeszug trat es natürlich im Internet an: Multitalente wie die Botez-Schwestern, Eric Rosen oder Hikaru Nakamura übertragen die Palette der Unterhaltungstechniken „klassischer” E-Sportler auf das Prinzip Schach. Der Erfolg des Schachspiels als E-Sport, der sich seine Nische erkämpft hat, hängt viel an seinen Akteuren.
Die Aufnahmen früherer Zeiten sind voll heiligem Ernst: Sie zeigen mittelalte weiße Männer mit zerfurchten Denkerstirnen vor den Brettern, oder Wunderkinder wie Samuel Reshevsky, der als Fünfjähriger zehn Opponenten gleichzeitig Paroli bot.
Heute sind Schachstreamer:innen Entertainer, die ihr Publikum – neben ihrem herausragendem Können – durch einen besonderen Spieltrieb unterhalten. Perfekte Züge zu spielen ist nicht mehr das Wichtigste; man lässt sich auch mal zum „Meme-Opening” hinreißen, legt sich aus Jux Steine in den Weg, und wenn man dann noch siegt, ist die Show perfekt.
Die Entdeckung, dass Schach inszenierbar ist, brachte es aus den Clubräumen auf die Smartphones. 64 schwarz-weiße Felder sieht Beth Harmon vor dem Einschlafen über sich an der Decke schweben, da ist ein mysteriöser Schaffensdrang in ihr am Werk, den man Talent nennt.
Dieses Talent am Schachbrett sprechen zu lassen wird im „Damengambit” zur existenziellen Frage einer vollendeten oder gescheiterten Existenz, das Schachspiel zur zentralen Metapher für ein Leben des Sieges und der Niederlagen.
Im echten Leben geht es trockener zu. Wer online Schach spielt, lernt die Welt der Statistik kennen, das Gesetz der Wiederholung. Das langsamere Klettern auf der Elo-Leiter, dem internen Rating-System der Schachverbände, ist keine Frage des Intellekts, sondern der Persistenz.
Bullet und Rapid heißen die Schlüsselwörter, die aus Laien heute geübte Amateure machen. Einzelne Siege oder Niederlagen bedeuten nichts, was zählt, sind Muster, die sich in die Synapsen einbrennen. Eine Drei-Minuten-Partie am Handy lässt sich auch mal eben beim Warten auf den Bus absolvieren. Wer sich diese Gewohnheit erstmal angeeignet hat, wird die klassischen Gelegenheitsspieler um sich herum bald schlagen können, auch ohne zu wissen, was der beschleunigte Drache oder die Nimzo-Indische ist.
So bleibt eine tausendjährige Faszination, leicht angepasst, in unserer heutigen Zeit bestehen.
Eine Kolumne von Clemens Pittrof
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.