Martina Eckrich-Thalheimer ist Diplompsychologin und psychologische Psychotherapeutin. Der ruprecht sprach mit ihr die überwältigenden Emotio-nen sowie Ansätze, die helfen können, besser mit der Belastung umzugehen.
Was sind typische Gefühle oder Zustände, die ein solches Geschehen bei Betroffenen auslösen kann?
Also in der Psychologie sprechen wir zuerst einmal von einer akuten Belastungsreaktion. Diese Reaktion ist eine vorübergehende Störung hervorgerufen durch ein außer-gewöhnliches physisch oder psychisch belastendes Ereignis. Die Symptomatik ist gemischt: Es kommt oft zu einer Art Betäubung, quasi der Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten, denn das Gehirn ist überlastet und weiß nicht, wo es anfangen soll. Manchmal kommt es auch zu einem starken Unruhezustand, einer Art Flucht, man möchte sich in Sicherheit bringen. Dazu gehören Zeichen von panischer Angst wie Herzrasen oder extremes Schwitzen. Die Betroffenen erleben Angst, Entsetzen, Trauer, Mitgefühl. Eine unglaubliche Mischung von sehr starken Gefühlen. Wichtig zu wissen ist, dass diese Reaktion innerhalb von Stunden oder auch Tagen wieder abklingt, da wir Selbstheilungskräfte haben.
Haben Sie Tipps zur Selbstfürsorge, um mit diesen vielen überwältigenden Gefühlen fertig zu werden?
Ganz basic sagen wir in so einer Situation: essen und schlafen. Wirklich für die Grundbedürfnisse sorgen. Und dann natürlich dem Gehirn dabei helfen, das Unfassbare zu verarbeiten. Wie genau, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, deswegen muss man in sich spüren.
Vielleicht tut es gut, wenn man sich zwei Tage mal zu eng vertrauten Menschen zurückzieht und etwas Abstand findet. Für manche ist es besser, mit Menschen darüber zu reden, die es auch erlebt haben, also Freund:innen oder Kommiliton:innen in Heidelberg. Die Gefühle, die Hilflosigkeit und Angst teilen. Anderen hilft vielleicht, es aufzuschreiben, statt darüber zu sprechen. Oder etwas dazu lesen, was anderen Menschen geholfen hat nach so einer schrecklichen Situation.
Es ist auf jeden Fall wichtig, dass man sich erlaubt, erstmal darauf klar zu kommen. Wir sind nicht geübt darin, solche Situationen zu erleben, erst recht junge Menschen nicht.
Ein ganz wichtiger Satz in der Traumatherapie ist „Es ist vorbei“. Es ist sehr hilfreich, wenn man sich daran erinnert, dass die gefährdende Situation vorbei ist.
Was können Sie Studierenden raten, die sich unwohl mit dem Gedanken fühlen, den Campus wieder betreten zu müssen?
Im Flight-Modus, dieser tief in uns verankerten Überlebensstrategie, wollen wir natürlich erstmal nicht mehr dorthin zurückkehren, wo wir die schlimme Situation erlebt haben. Angst und Vermeidung kommen ja sehr oft zusammen. In der Therapie geht es aber auch darum, genau dies zu können, sich konfrontieren zu können und zu sehen, dass es sicher ist, denn es ist vorbei. Eine Idee wäre, den ersten Besuch anders zu gestalten, als direkt zur Vorlesung zu gehen. Jemanden mitzunehmen, bei dem man sich sicher fühlt, gute Freund:innen zum Beispiel. Und vielleicht auch eine Kerze oder eine Blume mitbringen, die eigene Anteilnahme ausdrücken.
Angenommen, jemand hat gerade niemanden hier, den er mitnehmen kann oder möchte, kann der- oder diejenige vielleicht in Gedanken jemanden mitnehmen und am Telefon. Dass man mit jemanden reden kann, wie es einem dabei geht, man jemanden dabei hat, der einen unterstützt.
Wie kann man lernen, mit dieser neuen Unsicherheit umzugehen, dass der Campus nicht mehr dieser unangetastete sichere Ort ist?
Einerseits braucht dies wirklich Zeit. Nach so einer Verunsicherung braucht es wahrscheinliche viele Male, an denen man vor Ort ist und alles in Ordnung ist, bis man seine Sicherheit wiederbekommt.
Anderseits kann auch die pure Ratio helfen. Der Verstand, der sagt: „Ja, es ist etwas Schlimmes passiert, schlimme Dinge können leider passieren. Aber es ist extrem selten. Es ist einfach unwahrscheinlich, dass dies nochmal passiert, rein statistisch.” Also auch an diese Seite in sich wenden, die die Unwahrscheinlichkeit betont und die damit sehr entlastend wirken kann.
Einige Studierende berichten über Einschlafprobleme oder Alpträume. Was kann man dagegen tun?
Also auch das ist vollkommen normal, der Körper befindet sich ja im Alarmzustand. Zur Schlafhygiene gibt es ganz viele Tipps, um Beruhigung zu finden. Zum Beispiel einen Abendspaziergang unternehmen, ein warmes Bad nehmen oder einen Schlaftee trinken. Auch Meditation kann dabei helfen. Beim Einschlafen kann man sich auch einen sicheren Ort vorstellen, wo man gerade gerne wäre. Einen Berg oder eine Wiese, Orte, die einen beruhigen.
Es gibt auch ein sehr schönes Büchlein „Das kleine Übungsheft Achtsamkeit“ von Ilios Kotsou. Darin findet man sehr schöne, kleine Übungen, um achtsamen Umgang mit sich selbst zu erlernen und zu praktizieren.
Wie findet man das richtige Maß aus Normalität und Zulassen, dass man schockiert, traurig und hilflos ist? Eine gewisse Normalität gibt ja auch Struktur, aber wie findet man die Balance zwischen „Funktionieren“ und „Verarbeiten“?
Das ist natürlich etwas sehr persönliches und individuelles und geht stark in Richtung Achtsamkeit. Man muss wirklich in sich reinhören, denn auch das Funktionieren kann sehr helfen, der Alltag kann auch ein Gerüst sein.
Beispielsweise könnte man zweimal am Tag in sich hineinspüren, ob das, was man grade tut oder sich vorgenommen hat, das Richtige ist oder ob man doch lieber etwas anderes machen möchte, statt Lernen zum Beispiel einen langen Spaziergang mit einem lieben Menschen machen. Es kann auch helfen, sich einen Termin zu machen, mit einer Freundin oder einem Freund, zu dem man sich trifft, um darüber zu reden. An diesem Tag nimmt man sich genau dafür Zeit. Natürlich kann man auch über schöne Dinge reden, aber an diesem Termin lässt man die Gefühle wirklich mal zu. Ein Gedenkgottesdienst oder eine Therapiestunde sind ja ebenso geplant und begrenzt, genau wie eine Meditation. Einen Moment innehalten und danach geht es wieder weiter.
Jetzt steht für viele Studierende auch noch die Klausurenphase an: Was ist, wenn das man das Gefühl bekommt, dass einfach alles zu viel ist? Wie kann man mit dieser Überforderung umgehen?
Auch hier am besten in sich reinhören. Schauen, ob man es schafft, aber wenn man merkt, es ist zu viel, dann auch mal eine Klausur schieben. Etwas Nachsicht und Selbstmitgefühl mit sich haben. Es sind außergewöhnliche Umstände, es ist okay, die eine Klausur zu schieben, denn man kann Vertrauen in die eigenen Selbstheilungskräfte und Resilienz haben und man wird sich wieder erholen. Und dann mit mehr Kraft, wird es auch wieder leichter.
Glauben Sie, es gibt einen Punkt, an dem alles vorbei sein wird und sich alle wieder uneingeschränkt wohlfühlen werden?
Irgendetwas wird wahrscheinlich immer anders bleiben, als es vorher war. Das Leben schlägt uns Wunden, aber dadurch lernen wir auch, dass Wunden vernarben und dass wir mit Narben leben lernen.
Und natürlich merken wir in solchen Momenten auch, was uns wirklich hilft, also beispielsweise Solidarität und Zusammensein, und was in unserem Leben wirklich wichtig ist und dass nichts selbstverständlich ist.
Ein Erinnerungsort an ein schlimmes Ereignis ist ja so etwas ähnliches wie eine Narbe, es ist eine Erinnerung und wir versuchen, damit zu leben. Man lernt, dass Leben bedeutet, traurig und glücklich zu sein.
Wichtig ist, dass aus einer akuten Belastungssituation auch eine Belastungsstörung werden kann. Falls man merkt, dass es in wenigen Wochen nicht deutlich weniger geworden ist, dass man weiterhin Angstzustände oder Schlafschwierigkeiten hat – dann sollte man sich wirklich professionelle Hilfe suchen!
Das Gespräch führte Zarah Janda.
Hilfsangebote
Falls Du das Gefühl hast, dass Du Hilfe brauchst, scheue Dich bitte nicht, sie anzunehmen!
Beratung nach hoch belastenden Ereignissen
Spezialisierte Psychotherapeut:innen
Psychosoziale Beratungsstelle für Studierende
Tel.: 06221/543750
pbs@stw.uni-heidelberg.de
Telefonseelsorge: 0800 1110111
Nightline: im Semester täglich
21 – 2 Uhr unter 06221 184708
Zarah Janda studiert Molecular and Cellular Biology und ist seit dem Wintersemester 2020/21 beim ruprecht dabei. Am liebsten schreibt sie über Wissenschaft im Alltag.