Es schlägt zwölf, als die Glocken anfangen zu läuten. Der Organist beginnt zu spielen. Die Töne hallen von den Wänden der Universitätskirche wider, die Menge auf den Kirchenbänken schweigt.
Vorne, am Rednerpult steht Helmut Schwier, der Prediger der Universität Heidelberg. Hinter ihm ist ein großes, braunes Kreuz aufgebaut. Vor ihm leuchten Kerzen. Er blickt in die Augen der schwarz gekleideten Menschen. Sein Gesichtsausdruck wirkt mal konzentriert, mal mitfühlend. Ihm ist bewusst: Ohne den 24. Januar 2022 stünde er an diesem überdurchschnittlich windigen Montagmittag jetzt nicht hier.
Genau eine Woche zuvor drang ein 18-jähriger Student schwer bewaffnet in ein Biologietutorium im Neuenheimer Feld ein. Er schoss um sich, verletzte drei Studierende und tötete eine 23-jährige Studentin. Danach richtete er sich selbst.
„Es ist Zeit, einmal innezuhalten. Innezuhalten, um zu trauern. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Familien“, sagt Schwier in das Mikrofon am Pult. Hundert Augenpaare richten sich auf ihn. „Eine junge Studentin wurde in der Blüte ihrer Lebenszeit aus unserer Mitte gerissen. Eine Studentin, die so für das Leben brannte, dass sie Biologie studierte. Dies ist kein Einzelschicksal, sondern ein Angriff auf die gesamte Universitätsgemeinde“, fährt er fort.
Die getötete Studentin war im ersten Semester ihres Biologiestudiums. Letzte Woche sollte das Tutorium, nach einer schier unendlichen Zeit der Onlinelehre, dann wieder in Präsenz stattfinden. Die Freude über die Rückkehr zum normalen Unibetrieb war bei vielen Studierenden groß. Der Täter macht all dem in wenigen Sekunden ein Ende.
Nach dem tödlichen Anschlag wird das Neuenheimer Feld sofort großräumig abgesperrt. Kolonnen von Polizeiwagen und große schwarze Autos mit bewaffneten Einsatzkräften rauschen am Mathematikon vorbei Richtung Tatort. Es herrscht Angst und Ungewissheit. Viele Studierende verbarrikadieren sich stundenlang in Räumen der Uni. Andere versuchen verzweifelt ihre Freunde zu erreichen. Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, was wirklich geschehen ist. Jede Neuigkeit verbreitet sich über Twitter und den Live-Ticker der Medien wie ein Lauffeuer. Am Abend werden an den Standorten der Universität unzählige Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet.
Viele Zuhörer:innen auf den Bänken haben glasige Augen. Hin und wieder ist ein Schnäuzen oder das Rascheln eines Taschentuchs zu hören. Begleitet durch den Universitätschor sprechen Vertreter der Universität, der Verfassten Studierendenschaft, sowie der Stadt Heidelberg. Auch der Stellvertretende Ministerpräsident Thomas Strobl richtet im Namen der Landesregierung seine Gedenkworte an die Gemeinde. Sie alle versuchen, das Grauen in Worte zu fassen.
Es ist 12:55. Studierende und direkt Betroffene legen weiße Rosen vor den kerzenbeleuchteten Altar. Fast die ganze Trauergemeinde reiht sich in die lange Schlange ein. Manche halten sich in den Armen, wiegen sich hin und her. Manche stehen leise, ganz alleine da. Das Meer der weißen Rosen wächst stetig an.
Danach spricht Prediger Schwier den Segen. Die Kirchengemeinde erheben sich ein letztes Mal. Die Orgel spielt Felix Mendelssohns „Präludium“ in G-Dur.
Als die letzten Töne in der großen Kirche verhallt sind, rascheln die Stühle. Jacken und Schals werden angezogen. Durch den Mittelgang verlassen die Anwesenden die Kirche. Der Wind schlägt ihnen durch die Tür entgegen. Sie gehen hinaus in eine Stadt, die seit dem 24. Januar nicht mehr dieselbe ist.
...hat während der Coronapandemie ihre Liebe zum Schreiben und zum ruprecht entdeckt und war bis zum Ende ihres Studiums in Heidelberg Teil der Redaktion. Sie leitete das Ressort „Seite 1-3“ und erlebte, wie der ruprecht im Jahr 2021 als beste Studierendenzeitung Deutschlands ausgezeichnet wurde. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Recherche über das Unternehmen „Heidelberg Materials“ und dessen Umgang mit Menschenrechten in Togo. Lina ist weiterhin journalistisch aktiv und schreibt für das Onlinemagazin Treffpunkteuropa. Zudem ist sie als Podcast Autorin beim BdV tätig und berichtet über Flucht und Vertreibung in Europa.