Nach dem Amoklauf gibt es in den Heidelberger Mensen und WGs nur ein Thema. Neugier und Bestürzung nennen das manche. Sensationslust nennen es andere. Ein „berechtigtes öffentliches Interesse“ nennen es Journalist:innen.
Am Botanischen Garten stehen 24 Stunden nach der Tat mehrere Fernsehteams. Wer Blumen niederlegen und eine Kerze anzünden will, sieht sich den Objektiven der Pressemeute gegenüber. Vier Fotograf:innen machen ihre Bilder. Ich bin einer von ihnen. Ich bin nicht stolz darauf. Es ekelt mich an.
Die Redaktion des ruprecht ist in einer Doppelrolle: Wir studieren, manche von uns kennen INF 360, kennen den Hörsaal, kennen Betroffene. Die tiefe Erschütterung hat das gewohnte Denken völlig zerschlagen. Sorgen um die nächste Prüfung treten in den Hintergrund und weichen Schmerz, Fassungslosigkeit, Trauer und Wut.
Zugleich wollen wir informieren, nützlich sein sowie schnell und sauber berichten, das ist unsere selbstgesetzte Aufgabe. Aber wie? Was können wir schreiben? Was sollen wir beschreiben? Den Ablauf der Tat? Die Reaktionen?
Verwirrt suchen wir Interviewpartner:innen, wählen ein passendes Format, die treffenden Bilder. Das sind bekannte Abläufe, deren Normalität uns hilft, den Schock zu verarbeiten, doch sind die vertrauten Handgriffe auch die richtigen in dieser Ausnahmesituation?
Wir wollen mit Menschen sprechen, die nah am Geschehen waren, suchen über Instagram nach Augenzeug:innen und denken nicht darüber nach, was es mit jemandem macht, erlittene Todesangst im Interview erneut durchleben zu müssen.
Sollten wir schweigen? Keine Bilder zeigen? Damit würden wir uns der Wirklichkeit verschließen. Wir müssen auf dem schmalen Grat zwischen Respekt und Neugier bleiben. Es wirkt grausam, den Amoklauf und die damit verbundenen Emotionen in nackten, rationalen Worten wiederzugeben, aber es ist notwendig und zugleich unglaublich schwer. Vielleicht haben wir unsere eigenen Grenzen überschätzt, denn uns wird schmerzlich bewusst: Wir sind keine Journalist:innen – wir versuchen es nur zu sein.
Nicolaus Niebylski
mit Stimmen aus der Redaktion
Nicolaus Niebylski studiert Biowissenschaften. Beim ruprecht ist er seit dem Sommersemester 2017 tätig – meist als Fotograf. Er bevorzugt Reportagefotografie und schreibt über Entwicklungen in Gesellschaft, Kunst und Technik. Seit November 2022 leitet er das Ressort Heidelberg. Zuvor war er, beginnend 2019, für die Ressorts Studentisches Leben, PR & Social Media und die Letzte zuständig, die Satireseite des ruprecht.