Nach Informationen des türkischen Statistikamtes erreichte die Jahresinflation im Dezember vergangenen Jahres 36,08 Prozent. Höchstpunkt seit Regierungsantritt des türkischen Präsidenten: Recep Tayyip Erdoğan, Ende 2002. Die regierungsunabhängige Forschungsgruppe Enag beziffert die Teuerungsrate sogar auf 82,8 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland erreichte die Jahresinflation 2021 den höchsten Wert seit fast 30 Jahren, mit 3,1 Prozent. Politische Repressionen werden zunehmend überlagert von einer sich zuspitzenden Wirtschaftskrise. Alina* und Ben*, beide Studierende aus Ludwigshafen, sind erst vor wenigen Jahren zum Studium nach Deutschland gezogen. Sie berichten von den aktuellen Entwicklungen aus ihrem Heimatland.
Alina war erst kürzlich vor Ort und beschreibt eine Stimmung, geprägt von Unruhe und Angst, die sich in der Bevölkerung breit macht. Vom Staatsoberhaupt zitiert sie einen einprägsamen Spruch: „Was ihr wollt, ist mir egal, ich werde es machen.“ Die Tatsache von der Regierung nicht gehört zu werden, löst in ihr und vermutlich in vielen anderen Staatsbürger:innen der Türkei ein Gefühl von Machtlosigkeit aus, das sich angesichts der aktuellen Lage weiter zuspitzt. Laut Ben scheinen alle Schichten von der aktuellen Entwicklung betroffen. „Erst wenn es um wirtschaftliche Entwicklungen geht, versteht man, dass doch alle Bürger:innen stark miteinander vernetzt sind, unabhängig von politischer und religiöser Haltung, finanzieller Situierung oder sozialer Schicht.“ Diese sind in der Türkei auf engem Raum sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während die einen um das Überleben kämpfen, versuchen immer mehr Menschen, denen es finanziell möglich ist, auszuwandern. „Wenn die Hoffnung für die Zukunft verloren geht, wird es gefährlich“, meint Alina. So zieht es gerade junge kluge Köpfe in die Ferne. Gleichzeitig scheint ein kleiner Teil der Bevölkerung zu profitieren. Es ist möglich, dass der Regierung Nahestehende bereits im Vorfeld über Kursentwicklungen in Verbindung mit Elementen der Steuerung durch die türkische Zentralbank, informiert sind und von diesen profitieren. Und noch jemand profitiert: Ausländische Einkaufende, die an der Grenze zur Türkei leben, strömen nun zahlreich auf Shoppingtour.
Bereits 2018 warnte Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman vor einer „Todesspirale“ für die türkische Wirtschaft. Diese Prophezeiung scheint sich zunehmend zu bewahrheiten. So entsprechen 100 Lira gerade mal 6,56 Euro (Stand 26.01.2022). Die Teuerung wirke sich auf alle Lebensbereiche aus, wobei sich die Kosten der meisten Produkte verdoppelt haben, berichtet Alina. Krugman verwies damals bereits explizit auf die Gefahr der schwindenden Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank, verstärkt im Zuge der Errichtung des Präsidialsystems 2018. So entließ Erdoğan, Chef der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), innerhalb der letzten zwei Jahre drei Zentralbankchefs. Sie wollten seinem Kurs der Niedrigzinspolitik nicht folgen. Die massive Lenkung der Zentralbank durch die türkische Regierung lässt das Vertrauen ausländischer Unternehmen in die Lira schwinden, was die Inflation weiter befeuert. Dabei ist es unter Wirtschaftsexpert:innen anerkannter Konsens, auf steigende Inflation und Geldentwertung mit einer Erhöhung der Zinsen zu reagieren. Erdoğans Weigerung die Zinsen zu erhöhen ist rational schwer nachvollziehbar. Vielmehr scheint es ein Weltbild zu sein, das durch den Koran gestützt wird. Die emotional motivierte Wirtschaftsstrategie beinhaltet auch das Kalkül, die Türkei zu einer Exportnation aufsteigen zu lassen. Der Plan scheint aufzugehen, die Frage ist vielmehr, für welchen Preis.
Die schwache Lira lockt ausländische Unternehmen, wodurch die Exporte Rekordhöhen erreichen. Allerdings wird dadurch das Importieren von Waren für türkische Unternehmen bald unbezahlbar, was sich letzten Endes auf die Lebenshaltungskosten der Bürger:innen auswirkt. Als Maßnahme werden zusätzlich enorme Steuern auf zu importierende Waren wie digitale Geräte oder sogenannte Luxusfahrzeuge erhoben. „Wenn man sich ein Luxusauto kauft, finanziert man rechnerisch gesehen in Form von Steuern zwei weitere Autos für die Regierung mit“, meint Ben. Statt Zinsen zu erhöhen, wird Volksbrot verkauft. Lange Schlangen bilden sich vor den Läden. Außerdem gibt es in einigen Supermärkten digitale Preisanzeigen, um auf den starken Kurswechsel schnell reagieren zu können. Andere Läden schließen mittags, um die Etiketten neu zu beschriften. Erdoğan ist ein Präsident, der sein Volk durch emotionale Reden sowie Spaltung der Gesellschaft für sich gewinnt. Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung scheint jedoch der Machterhalt der Regierung auf so unsicherem Grund zu stehen wie noch nie. So steht die AKP in aktuellen Umfragen erstmals seit 18 Jahren hinter der größten Oppositionspartei CHP.
Unmut und Verzweiflung, die schon seit langem viele Menschen begleiten, werden nun durch die prekäre wirtschaftliche Lage katalysiert. Durch die Angst der völligen Anarchie verblasst die Furcht vor Repression. Auch das Machtsicherungsmittel der Spaltung scheint an Wirkung zu verlieren, wenn sich fast die gesamte Gesellschaft um ihren Lebensunterhalt sorgt. Wenn man die Studierenden nach ihren Wünschen für die Zukunft fragt, so hoffen sie auf eine Besserung, obwohl sie nicht mehr an diese glauben. Als wichtige Voraussetzung dafür sehen die beiden weniger emotionale Lenkung der türkischen Bevölkerung. „Emotionen sind sehr wichtig für Beziehungen und Literatur, nicht aber für Wirtschaft und Politik. Hier braucht es eine andere Mentalität“, so Ben.
* Namen von der Redaktion geändert