Abdullah Alahmad hat sich dazu entschieden, seine Geschichte von Flucht, Ankunft und bleibenden Hürden offen zu erzählen: „Weil ich es nicht mehr ertragen kann, das Gefühl, dass ich nie gehört werde. Es ist schrecklich und gefährlich.“ Im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus, kurz IWgR, stellte er sich als „menschliches Buch“ zur Verfügung und berichtete von seiner Flucht aus Syrien und seinen Erfahrungen in Heidelberg. In solch einer „Human Library“ dienen Menschen anstelle von Büchern als Informationsträger:innen und können für ein Gespräch entliehen werden. Die „Entliehenen“ gehören zu Personengruppen, die mit Vorurteilen, Stereotypen oder sozialer Ausgrenzung konfrontiert sind.
Zum Auftakt der IWgR steht Oberbürgermeister Eckart Würzner auf einem Podest der Alten Aula. Eine Hand hält das Mikrofon, die andere steckt in der Hosentasche. Laut Würzner vertritt Heidelberg mit der IWgR die klare Botschaft: „Es ist egal, woher du kommst, welche Hautfarbe du hast, welche Religion du ausübst. Du bist im Team willkommen, wenn du dich an die Teamregeln hältst.“
Neben der Human Library fanden vom 14. März bis 15. Mai im Zuge der IWgR verschiedene Veranstaltungen statt. Seit 2016 werden die Aktionswochen von der Stiftung gegen Rassismus geplant, laut Homepage mit dem Ziel, Rassismus und Ausgrenzung gegen Minderheiten zu überwinden. Auch dieses Jahr koordinierte in Heidelberg das Interkulturelle Zentrum die IWgR und stellte unter dem Motto „Haltung zeigen!“ ein buntes Programm zusammen.
Zum Schluss seiner Rede bedankt sich Oberbürgermeister Würzner bei allen Engagierten. Zu ihnen gehört auch Abdullah. Seit 2015, dem Jahr, als er nach Heidelberg kam, ist er bei „Über den Tellerrand kochen Heidelberg e.V.“ aktiv. Der Verein verfolgt das Ziel, durch gemeinsame Kochevents einen Raum für Begegnungen zwischen Menschen mit Fluchterfahrung und Beheimateten zu schaffen. Erfahrungen mit Diskriminierung hat er unter anderem in einer Heidelberger Berufsschule gemacht: „Während meiner Ausbildung wurde ich gemobbt und ausgegrenzt. Mein Arbeitgeber meinte, dass ich Zeugen brauche. Von meinen Klassenkameraden wollte mich aber niemand unterstützen. Das war schrecklich. Am Ende habe ich die Ausbildung aufgegeben.“
„Leute sagen, was ich erlebe sei kein Rassismus“
Auch von Racial Profiling, also diskriminierenden Polizeikontrollen, sieht sich Abdullah betroffen. Rassistisch motivierte Polizeikontrollen sind in Deutschland gesetzlich verboten und verstoßen gegen Artikel 3 des Grundgesetzes. „Sie kontrollieren mich oft einfach ohne Grund. Ich werde fast jeden Monat kontrolliert und habe gefragt, warum sie ausgerechnet mich herausziehen. Sie meinten dann, dass ich jemandem ähnlich sehen würde, den sie suchen. Ich habe Freunde, denen es auch so geht.“
Die Teilnehmer:innen der Human Library sitzen in einem Kreis. Nach einer Vorstellungsrunde soll Abdullah frei über seine Erfahrungen berichten. Er befürchtet, dass ihm Menschen, die selbst nicht betroffen sind, nicht glauben werden: „Manchmal war ich unsicher, ob ich meine Geschichte wirklich erzählen will, ob die Leute ein gutes Bild von mir haben werden.“ Als „offenes Buch“ machte Abdullah während der Human Library größtenteils positive Erfahrungen: „Es war für mich eine Erleichterung, dass mir jemand zuhört. Die Fragen waren interessant.“
Er war jedoch auch unangenehmen Reaktionen ausgesetzt. So berichtet er über die regelmäßigen Polizeikontrollen: „Manchmal sagen Leute, was ich erlebe, sei kein Rassismus, sondern erforderlich für die Sicherheit des Landes.Ich wurde auch schon gefragt, ob ich in solchen Situationen alles richtig verstanden habe, weil mein Deutsch nicht so gut ist.“
Eine Teilnehmerin aus Heidelberg berichtet, dass auch sie Rassismus erlebt. Ihre Strategie ist die Konfrontation: „Ich komme gerne mit Leuten ins Gespräch, denn nur so können Vorurteile abgebaut werden. Aber natürlich bin ich privilegiert, weil ich hier aufgewachsen bin.“ Ob die Veranstaltungen der IWgR auch die Personen erreicht, die sich mit ihren Rassismen auseinandersetzen sollten, sieht Abdullah kritisch: „Es ist so: Menschen mit rassistischen Ansichten werden nicht auf Veranstaltungen gehen, in denen es um Antirassismus geht und um Hilfe bitten. Die meisten wissen nicht mal, dass sie rassistische Ansichten haben oder denken, sie seien auf dem richtigen Weg.“
Auch die Aktivistinnen Zehra Tuzkaya und Leonie Baumgarten-Egemole setzen sich neben Studium und Minijob dafür ein, dass Rassismus in Heidelberg öffentlich sichtbar gemacht wird. Unter anderem veranstalten sie Demonstrationen, richten Gedenkstätten für Gewaltopfer von Rassismus ein und geben Stadtrundgänge zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Heidelbergs. „Diese Menschen tragen so viel, was eigentlich die Stadt tragen müsste. Die gleichen Leute sind in vielen Vereinen aktiv und setzen sich intersektional ein. Ich versuche seit zwei Jahren, meine Bachelorarbeit abzuschließen.“, sagt Zehra vom Antirassismus-Referat der Universität Heidelberg. Leonie ist Mitleiterin des Antirassismus-Netzwerks Heidelberg. Auch sie stellt ihr Studium hinten an: „Wir müssen unsere Abschlüsse beiseiteschieben, während wir uns um Aufgaben der Stadt, der Uni oder anderer Institute kümmern.“
In Heidelberg findet Diskriminierung und Rassismus nicht ausschließlich gegenüber Einzelpersonen statt. Auch die mediale Berichterstattung bedient sich problematischer Darstellungen.
Auf dem Titelbild der November-ausgabe 2021 der Rhein-Neckar-Zeitung ist eine Wellblechhütte zu sehen. Der zugehörige Titel lautet: „Trügerische Stille – Was macht die südafrikanische Corona-Variante so gefährlich“. Die Bildunterschrift verrät den vermeintlichen Zusammenhang zum Inhalt: „Hochansteckend und mutierend: In der südafrikanischen Provinz Gauteng wurde die neue Corona-Variante zuerst entdeckt – im Bild eine typische Wellblechhütte.“ In dem Artikel wird über die damals noch neue, in Südafrika entdeckte Corona-Variante berichtet. „Man hätte auch ein Foto von einem Labor in Südafrika nehmen können, aber stattdessen griff die RNZ auf ein Bild einer Wellblechhütte zurück. Wir wurden alle rassistisch sozialisiert und viele, die dieses Bild sehen, werden in ihren Vorstellungen über Afrika bestätigt“, so Zehra.
„‚Es war nicht so gemeint‘ ist nicht ausschlaggebend“
Während bei Artikeln zum Pandemiegeschehen in Europa und den USA Forscher:innen, Kliniken und mikroskopische Aufnahmen des Virus zu sehen sind, wählte die RNZ eine, dem Antirassismus-Netzwerk zufolge auf rassistischen Denkmustern beruhende, Darstellung von Afrika als „arm und unterentwickelt“: „Schwarze Menschen werden in der Gesellschaft zwar sichtbarer gemacht, aber nicht in einem positiven Sinne“, sagt Zehra. Reaktionen auf den RNZ-Aufmacher kamen hauptsächlich von Menschen, die selbst von Rassismus betroffen sind. Reaktionen von zuständigen Institutionen in Heidelberg blieben aus. Menschen, die nicht persönlich betroffen sind, sehen Leonie zufolge die Problematik der Schlagzeile nicht.
Das Antirassismus-Netzwerk entschied sich für einen Aufruf, den sie auf ihren Social-Media-Kanälen teilten: „Wir haben einen öffentlichen Brief verfasst, weil wir den Diskurs in der Gesellschaft über dieses Thema erhöhen wollten. Jede Person, die das liest, soll sich Gedanken machen und über das Problem reflektieren“, sagt Leonie.Das Netzwerk fordert eine Entschuldigung der RNZ. Außerdem wurden andere Vereine dazu aufgerufen, eine an die Chefredakteur:innen gerichtete E-Mail mit gleichen Forderungen zu senden.
Auf eine Antwort der RNZ müssen die Aktivist:innen nicht lange warten. Nach einem E-Mail-Austausch kommt es zu einem Treffen in den Räumen der RNZ: „Eine Entschuldigung hat der Chefredakteur nicht eingesehen.“ Dabei haben die Aktivist:innen der RNZ verschiedene Angebote gemacht: „Wir haben dem Chefredakteur angeboten, Antirassismusworkshops zu geben. Das wurde ignoriert und auch nicht angenommen. Das Argument: ‚Es war nicht so gemeint‘ ist nicht ausschlaggebend.“ Vielmehr gehe es laut Leonie um die Auswirkungen: „Der Chefredakteur meinte, dass sie so einen Artikel zugegebenermaßen nicht nochmal veröffentlichen würden“. Schließlich einigen sich beide Seiten auf ein Interview mit dem Journalisten und Buchautor Mohamed Amjahid. In Heidelberg stellte der Politikwissenschaftler im interkulturellen Zentrum sein Buch „Der weiße Fleck“ vor. Darin befasst er sich mit Rassismus und Diskriminierung in der deutschen Gesellschaft. Amjahid greift in dem RNZ- Interview die Problematik hinter der Darstellung auf und untermauert die Argumente der Vereine. Er räumt ein: „Ich weiß, dass die Auswahl von Bildern für eine Zeitung oftmals ein Balance-Akt zwischen Lesersprache und adäquater Bebilderung ist“.Dieses Gleichgewicht herzustellen sei der RNZ in diesem Fall nicht gelungen, so Amjahid. Das Interview wurde nicht, wie vom Antirassismus-Netzwerk verhofft, auf der Titelseite gedruckt.
Abdullah, Leonie und Zehra sehen alle einen größeren Handlungsbedarf von Seiten der Stadt Heidelberg und anderen Institutionen.
Laut Abdullah erreicht das Angebot der IWgR nicht die Menschen, die es erreichen sollte. In den Vereinen, die sich gegen Rassismus stark machen, sind es vor allem junge Black, Indigenous, People of Color, die kostenlose Aufklärungsarbeit leisten. Statt auf Zuspruch stoßen die Engagierten oft auf Vorwürfe. Leonie betont: „Aktivist:innen wird vorgeworfen, dass sie zu sensibel seien. Uns wird unterstellt, dass wir Probleme sehen, wo es keine gibt. Diese Probleme sind aber da.“