Seit dem russischen Angriffskrieg liegt Polinas Welt in Trümmern – ihr Heimatland befindet sich auf der falschen Seite. Aus Solidarität mit der Ukraine verfasst die Anglistikstudentin im Namen der russischen Studierenden einen offenen Brief gegen den Krieg. In kürzester Zeit macht sie dies in Russland zu einer Persona non grata.
Es ist der 28. Februar 2022. Der sechste Tag in Putins Krieg. Die Heidelberger Studentin Polina teilt einen Beitrag auf ihrem Instagram-Account. Es ist ein offener Brief der russischen Studierenden der Universität Heidelberg. „Wir sind gegen den Angriffskrieg“ ist darauf zu lesen. Polina ist Russin, sie hat den Brief mit den anderen Studierenden zusammen verfasst.
Keine 24 Stunden später wird im 2400 km entfernten Moskau die russische Regierung auf Polina aufmerksam. „Am nächsten Tag wurde meine Schwester auf ihrer Arbeit angesprochen und gefragt, warum ich einen solchen Brief unterschrieben habe“, sagt Polina. Ihre Schwester arbeitet im Wirtschaftsministerium in Moskau. Das Sekretariat des Ministeriums habe ihr sogar den Brief gezeigt und gefragt: „Ist das deine Schwester“?
Polina ist erschrocken, ihre Schwester wütend. „Bist du blöd, warum teilst du öffentlich so einen Brief?“, wird sie anschließend von ihrer Schwester gefragt. „Weil ich es tun musste, ich musste es für mich selbst tun“, erinnert sich Polina an ihre Antwort. Ihre Schwester verstehe das, bitte sie aber, den Brief nicht weiter zu verbreiten und unauffällig zu bleiben. Die staatlichen Sicherheitsbehörden würden alles prüfen.
Das Sekretariat fragte: Ist das deine Schwester?
In Russland steht die Verbreitung des Wortes „Krieg“ unter Strafe. Der Kreml bezeichnet den völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine als „militärische Spezialoperation“. „In Russland darf man das Wort ‚Krieg‘ nicht benutzen, nicht in Zeitungen, nicht in öffentlichen Medien, nicht auf Instagram. In dem Brief haben wir das Wort ‚Krieg‘ gleich mehrmals benutzt“, sagt Polina. „Wenn ich jetzt nach Russland zurückfliege, kann ich verhaftet werden“, sagt sie und stellt ihre Kaffeetasse ab.
Trotzdem bereut sie den Brief nicht. „Putin ist nicht unser Präsident. Meine Generation hat diesen Präsidenten nicht ausgewählt und hat nichts damit zu tun. Trotzdem fühlen wir uns schuldig“, sagt Polina. Seit Kriegsausbruch wird sie immer wieder gefragt, wie sie zum Krieg stehe. „Viele Freunde und Bekannte aus Deutschland haben mich über Instagram angeschrieben und gefragt, ob ich die Ukraine als ein eigenständiges Land ansehe“, sagt sie und schüttelt vehement den Kopf. „Das ist eine komische Frage, natürlich.“
Polina empfindet es als ihre persönliche Pflicht, sich öffentlich gegen den Krieg zu positionieren. „Es ist sehr wichtig für uns Russen, die im Ausland leben, unsere Position auszudrücken, denn diejenigen in Russland können das nicht tun“, sagt sie mit fester Stimme und blickt über die Schulter. „Ich kenne viele Personen, die wegen ihren Protestaktionen schon Probleme mit der Polizei hatten oder verhaftet wurden.“ Sogar wer nicht aktiv protestiert, läuft Gefahr, von der Polizei aufgegriffen zu werden. „Freunde von mir wurden in der Nähe einer Protestaktion festgenommen, weil sie angeblich wie Protestierende aussahen, obwohl sie nur auf der Straße waren und nichts dergleichen getan haben“, sagt Polina.
Seit dem russischen Angriffskrieg erlebt Polina zum ersten Mal in ihrem Leben etwas, das sie als „Russenphobie“ bezeichnet. „Ich habe mit einigen ukrainischen Studierenden hier gesprochen. Manche von ihnen meinen, es fühlt sich so an, als müsse man alle Russen hassen“, sagt Polina. „Natürlich sind solche Reaktionen meist einfach nur Schock, aber es ist psychologisch trotzdem schwer, sehr schwer für mich.“
„Ich kann mir meine Nationalität nicht aussuchen“
Im StuRa kommt sogar der Vorschlag auf, alle russischen Studierenden zu exmatrikulieren. Solche Ideen kursieren bereits in Belgien und in Tschechien. „Das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte“, sagt Polina und schüttelt den Kopf. „Wir sind vor diesem Regime geflohen und jetzt wollen sie uns wieder zurückschicken?“ Vor einem solchen Szenario sind die Heidelberger Studierenden jedoch zunächst sicher. Der Rektor der Universität Heidelberg versichert, dass niemand aufgrund seiner Nationalität eine Exmatrikulation erhalte. Zudem unterstützt die Universität die russischen Studierenden bezüglich der anfallenden Studiengebühren. Laut Polina sei dies auch nötig. „Der Rubel ist so gut wie nichts mehr wert. Hinzu kommt, dass viele von uns durch den Swift-Ban kein Geld mehr von ihren Eltern bekommen können“, sagt Polina.
Auch außerhalb der Universität erhält Polina unerwartete Unterstützung. „Eine alte Frau hat sich bei uns gemeldet und angeboten, für uns die Studierendengebühren zu zahlen“, sagt Polina. „In Russland wird es so propagiert, als ob jeder Russe im Ausland nur Anfeindungen bekommen würde. Das stimmt nicht, ich habe so viel Hilfe erhalten“, sagt sie. „Ich kann mir meine Nationalität nicht aussuchen, aber wenn wir gegen den Krieg sind, dann sind wir gegen den Krieg, auch als Russen.“
...hat während der Coronapandemie ihre Liebe zum Schreiben und zum ruprecht entdeckt und war bis zum Ende ihres Studiums in Heidelberg Teil der Redaktion. Sie leitete das Ressort „Seite 1-3“ und erlebte, wie der ruprecht im Jahr 2021 als beste Studierendenzeitung Deutschlands ausgezeichnet wurde. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Recherche über das Unternehmen „Heidelberg Materials“ und dessen Umgang mit Menschenrechten in Togo. Lina ist weiterhin journalistisch aktiv und schreibt für das Onlinemagazin Treffpunkteuropa. Zudem ist sie als Podcast Autorin beim BdV tätig und berichtet über Flucht und Vertreibung in Europa.