Unter dem Twitter-Hashtag #IchBinHanna äußern sich seit letztem Sommer Wissenschaftler:innen zu den Arbeitsbedingungen in der Forschung. Hanna ist eine fiktive Wissenschaftlerin aus einem Erklärvideo des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Der Clip, den das Ministerium mittlerweile gelöscht hat, erklärt am Beispiel von Hanna die Funktionsweise von befristeten Verträgen als Auswirkung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG). Viele Wissenschaftler:innen, die unter dem #IchBinHanna twitterten, empfanden diese Erklärung als verletzend. Insbesondere die Begründung von Befristungen durch die Verhinderung der “Verstopfung” vieler Stellen durch Wissenschaftler:innen älterer Generationen, zog massive Kritik nach sich.
Die Kritiker:innen scheinen sich einig zu sein – das WissZeitVG schafft vor allem Abhängigkeit statt Innovation. Vor allem verstärkt es die Abhängigkeit von Chef:innen, auf deren Wohlwollen man vor jedem Vertragsende angewiesen ist. Ohne Befristung wäre das anders: “Dann traut man sich vielleicht auch mal, dem Lehrstuhlinhaber, der ja auch auf einer unbefristeten Stelle sitzt, Kontra zu geben”, so Gordon Feld, Arbeitsgruppenleiter in der Abteilung für klinische Psychologie am ZI Mannheim. Er selbst leitet eine Emmy-Noether-Arbeitsgruppe und betreibt mit seinen Mitarbeitern Forschung auf höchstem Niveau. Dennoch ist auch er prinzipiell von der Befristung bedroht.
Feld beschreibt darüber hinaus die Abhängigkeit von Drittmitteln. “In den Emmy-Noether-Antrag habe ich einiges an Planung hineingesteckt. Wenn man an einem Antrag schreibt, für drei bis vier Monate und kriegt den dann bewilligt, dann lohnt es sich natürlich. Aber in den letzten Jahren habe ich auch noch mehr Anträge geschrieben, und von denen wurde dann keiner mehr gefördert. Man kann auf jeden Fall versuchen, die Rahmenbedingungen so zu machen, dass man eine Chance hat. Aber dann hat es auch ein Stück weit mit Glück zu tun, dass man an den richtigen Gutachter gerät. Da kann man jemanden haben, der sehr streng ist oder dem die Idee nicht gefällt, oder der einen anderen wissenschaftlichen Hintergrund hat. Da kann man einen perfekten Antrag geschrieben haben – wenn man Pech hat, wird man nicht gefördert.”
Als Indikator für die Qualifizierung der Forschenden, die oft über eine eventuelle Förderung entscheidet, werde dann oft die Anzahl und der Erscheinungsort der Publikationen herangezogen. „Viel publizieren, das ist nicht dasselbe wie hohe Qualität, auch nicht in high-impact journals. Es gibt auch Daten dazu, dass diese Fachzeitschriften nicht das an Qualität liefern, was gemeinhin gedacht wird. Wenn man die Existenz der Leute bedroht, produzieren sie mehr Publikationen und versuchen, diese möglichst hoch einzureichen. Aber ein high-impact journal hat ja auch begrenzten Platz,” gibt Feld zu bedenken.
Das Wissen, dass nichts sicher ist, auch wenn die eigene Karriere gerade gut läuft, kann insbesondere für Wissenschaftler:innen mit einer Familie eine besondere Belastung darstellen. “Meine Forschung würde davon profitieren, wenn dieser ständige Druck nicht da wäre”, so Feld. Über seine persönlichen Situation hinaus übt er auch Kritik an der Begründung für Befristung in den wissenschaftlichen Einrichtungen schafft. “Die Frage mit der Innovation ist ja auch: Wie gut ist eine Innovation, wenn alle paar Jahre jemand etwas neu erfindet, und dieses Expertenwissen, was sich die Leute mühsam abgearbeitet haben, alle paar Jahre ausgetauscht wird.”
Umso ärgerlicher empfindet er die Signale, die ihm aus der Politik durch den Clip des BMBFs gesendet werden. “Dieser Verstopfungsgedanke ist für Leute, die auf meinem wissenschaftlichen Niveau arbeiten, Unsinn. Keiner von uns will in so einer Stelle sitzen bleiben. Dafür habe ich schon zu viel investiert, als dass ich das machen wollen würde.”
„Dieser Verstopfungsgedanke ist Unsinn“
Die aktuellsten Zahlen der Uni Heidelberg, welche aus einem Bericht der Humboldt-Universität Berlin von 2016 hervorgehen, dokumentieren eine Befristungsquote von 87%. Darunter fiel auch Mira, eine junge Doktorandin, die unter einem Pseudonym spricht. Sie befürchtet, dass Kritik am Vorgehen der Universität und an ihren ehemaligen Vorgesetzten zu eine weiteren Verschlechterung ihrer Situation führen könnte. Nach fünfeinhalb Jahren Doktorantinnendasein und vier verschiedenen Arbeitsverträgen ist sie zurzeit arbeitslos.
Zuerst war es ein Zweiahresvertrag, dann waren es 23 Monate, dann nur noch zwölf Monate. Schließlich wurde ihr Vertrag nur um sechs weitere Monate verlängert. Die Doktorarbeit war noch lange nicht fertig, trotz Überstunden und Arbeit am Wochenende. Sie hatte zu viel Lehre aufgetragen bekommen – ohne dass sie jemals daran herangeführt wurde. Jedes Jahr begleitete sie Seminare oder Vorlesungen, korrigierte Arbeitsblätter und betreute Studierende. Ihre Dissertation schreibt sie nun in der Arbeitslosigkeit. Jeder Brief vom Arbeitsamt ist eine neue Erinnerung, dass sie es nicht in den fünfeinhalb Jahren geschafft hat – dabei beträgt die durchschnittliche Promotionsdauer in ihrem Forschungsfeld sechs Jahre, Pandemie und Lehrüberstunden nicht eingerechnet. Sechs Jahre, genauso lange, wie es das WissZeitVg erlaubt.
Ihre Dissertation möchte Mira dennoch fertig stellen. Sonst würden sich die letzten Jahre zu sehr nach verlorener Zeit anfühlen. Dabei war die Lehrtätigkeit nie negativ für Mira konnotiert – im Gegenteil, sie hatte Spaß dabei. Es war dennoch zu viel. Statt den vorgeschriebenen 44 Lehrpunkten arbeite sie in den fünfeinhalb Jahren 61. Abhängig von den Verträgen müssen Promovierende ein gewisses Maß an Lehre absolvieren, dieses wird in Lehrpunkten festgehalten. Angerechnet wird ihr der Überschuss nicht.
Ihr wichtigstes Anliegen: “Dauerstellen für Daueraufgaben”. “Wenn die durchschnittliche Promotionsdauer sechs Jahre beträgt, sollte der Vertrag auch auf sechs Jahre befristet sein. Oder vielleicht zweimal drei Jahre mit einer Evaluation nach drei Jahren.” Insbesondere die Organisation der Lehre müsse neu gedacht werden. Mira betreute kein Seminar zweimal. Dementsprechend konnte sie kein Feedback von Studierenden einbauen. Für solche wiederkehrende Veranstaltungen sollte es festangestelltes Personal geben, so Mira.
Sebastian Schütte, Promovierender der Geschichtswissenschaft, ist über eine 50%-Landesstelle befristet an der Uni angestellt und ebenfalls von den Bedingungen, die Mira beschreibt, betroffen. “Schon mein reguläres Tätigkeitsspektrum als akademischer Mitarbeiter mit Assistenzfunktion umfasst durchaus Aufgaben, mit der man problemlos eine Dauerstelle betrauen könnte: Studiengangskoordination, Studiengangsberatung, Prüfungsverwaltung, Lehre – um nur einige Aspekte zu nennen.”
Befürworter:innen des WissZeitVG befürchten, dass Forschende die Motivation für Lehre oder eigene Pro-jekte verlieren, wenn sie eine Entfristung erhalten. Dem entgegnt Sebastian Schütte: „Eine jüngst von Verdi veröffentlichte Studie zeigt, dass der Produktivitätsschub, der durch die Befristung angeblich entsteht, nur ein vermeintlicher ist. Der Gedankengang, dass eine Entfristung automatisch eine Arbeitszeitschläfermentalität hervorbringe, hinkt. Außerdem übersieht er nicht nur, dass es bei steigenden Studierendenzahlen und den damit anfallenden Aufgaben fast unmöglich wäre, diese durchzuhalten, sondern er blendet auch aus, dass viele meiner Kolleg*innen engagierte Forschung und Lehre aus intrinsischen Motiven betreiben.“
Auch Gordon Feld hält dem entgegen: “Wenn du immer wieder die Leute auswechselst, dann ist das schon mal schlecht, um gute Lehre zu machen. Zum Einen, weil du dann nicht die Kontinuität hast, das zu investieren, was du investieren müsstest, um langfristig gute Lehre zu machen. Zum anderen werden keine Anreize geschaffen, um gute Lehre zu machen.”
Insgesamt steht er dem Innovationsgedanken durch Befristung sehr skeptisch gegenüber. “Was gibt es denn für empirische Belege dafür, dass ein solches System die Innovation fördert? Wir wollen Innovation auf der einen Seite, aber wir wollen ja auch hochwertige Arbeit, und ich würde ganz klar sagen, dass man mit der Befristungspraktik vor Allem kurzfristige Forschungsvorhaben fördert.“
Doch welche konkreten Lösungsvorschläge haben die Betroffenen?
Gordon Feld wünscht sich eine Verengung des Systems an früherer Stelle. Er findet, “dass wir in dem System jetzt noch viele Leute drin haben, die schon viel früher hätten aufhören müssen, Wissenschaftler zu sein. Und das ist auch so eine unschöne Wahrheit, die in der #IchBinHannah-Bewegung nicht gern gesehen wird. Es gibt viele Leute, die nach der Doktorarbeit drin geblieben sind und für die gibt es keine langfristige Per-spektive. Aber das muss dann auch fair kommuniziert werden, statt sie mit befristeten Verträgen noch möglichst lange im System zu halten. Außerdem wünscht er sich ein Befristungssystem, wie es in der Industrie Standard ist: eine Probezeit von wenigen Monaten, gefolgt von der Entfristung.
Sebastian Schütte wünscht sich ebenfalls eine Reform des WissZeitVG. “Es ist meines Erachtens höchste Zeit, den Mittelbau als ein wichtiges Betätigungsfeld mit eigener Daseinsberechtigung denn als einen Durch-gangsbahnhof auf dem Weg zur Professur zu begreifen – und dieses auch in finanziell-institutionellen Kategorien zu würdigen.“
Und sie selbst? Verbleiben die Betroffenen trotz all der Widrigkeiten in der Wissenschaft? Für Mira ist klar: “Bis hierhin und nicht weiter.” Gordon Feld sagt dazu: “Jetzt, wo ich hier bin und ich weiß, dass ich eine ganz gute Perspektive habe, will ich in der Wissenschaft bleiben. Aber so, wie das System jetzt ist, kann ich es keinem empfehlen. Leider.”
Zarah Janda studiert Molecular and Cellular Biology und ist seit dem Wintersemester 2020/21 beim ruprecht dabei. Am liebsten schreibt sie über Wissenschaft im Alltag.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.