Der neue „woke“ Instagrammer liebt Sternzeichen. Neben einem ästhetisch ansprechenden und farblich abgestimmten Instagramfeed steht in seiner Caption nun ebenso unter welchem Sternzeichen er geboren ist. Wichtig für den Instagrammer scheint ebenfalls zu sein, ob sein Aszendent im Zwilling oder Waage aufgeht.
Damit hat sich die Esoterik von staubigen Jahrmarkthüttchen ihren Weg zurück in unser Bewusstsein erkämpft. In Verbindung mit Spiritualität bekommt die Esoterik einen neuen Anstrich. Worte wie „libra energy“ und „just gemini things“ erleben Hochkonjunktur. Auch Tinder erklärt dem „woken“ Liebessuchenden nun, warum es einen Zusammenhang zwischen seinen Tinder-Matches und seinem Sternzeichen gibt. Jetzt wird auch dem Letzten klar, warum es mit der vorherigen Beziehung nicht geklappt hat. Sein Sternzeichen war Stier.
All dem geht die Prämisse voraus, dass eine Person aufgrund ihres Geburtsdatums eine gewisse, unumstößliche Charaktereigenschaft besitzt. Egal, welche Erziehung oder Bildung sie genossen und in welchem Umfeld sie aufgewachsen ist.
Eine solche Kategorisierung und Klassifizierung von Menschen anhand ihrer Geburt wird in der Sternzeichenphilosophie allgemein akzeptiert. In anderen Kontexten wie beispielsweise der Rassentheorie, ist dies üblicherweise nicht der Fall. Das Konzept der angeborenen Eigenschaften von Menschen bleibt jedoch dasselbe.
Einer gänzlichen Verteufelung des neuen Sternzeichenhypes muss jedoch eine Absage erteilt werde. Im Gegensatz zur Rassentheorie findet keine Hierarchisierung der Sternzeichen statt, man braucht keine Nationalität und muss auch keinem überteuerten Club beitreten. Glücklicherweise besitzt jeder Mensch ein Sternzeichen und ist potenziell Teil der neuen Esoterikbewegung.
Dies ermöglicht den „woken“ Instagrammern, egal ob europäisch oder nicht, eine Flucht in eine stabilitätsschaffende Identifikation anhand von vorgefertigten Kategorien.
Diese scheint auf den ersten Blick weniger problematisch als die Flucht in einen ebenfalls identitätsschaffenden Nationalstolz. Anstelle von AfD-Plakaten kauft das „woke“ Instagramvolk lieber Salbei für 15 Euro bei Urban Outfitters. Ob dies die bösen Geister der kapitalistischen Gesellschaft aus der heimischen Wohnung zu vertreiben mag, bleibt fraglich. Ob die Nachkommen der indigenen Völker, deren Vorfahren aufgrund solcher Bräuche und Ritualen jahrhundertelang verfolgt und exorziert worden sind, einen Anteil an der Kommerzialisierung ihrer Kultur erhalten, ebenso.
All dessen ist sich der „woke“ Instagrammer entweder nicht bewusst oder verschließt gekonnt die Augen, während er, den Salbeiduft einatmend, auf sein neues Sternzeichen-Tinder-Date wartet. Hoffentlich geht dessen Aszendent dieses Mal in der Waage auf.
Eine Kolumne von Lina Abraham.
...hat während der Coronapandemie ihre Liebe zum Schreiben und zum ruprecht entdeckt und war bis zum Ende ihres Studiums in Heidelberg Teil der Redaktion. Sie leitete das Ressort „Seite 1-3“ und erlebte, wie der ruprecht im Jahr 2021 als beste Studierendenzeitung Deutschlands ausgezeichnet wurde. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Recherche über das Unternehmen „Heidelberg Materials“ und dessen Umgang mit Menschenrechten in Togo. Lina ist weiterhin journalistisch aktiv und schreibt für das Onlinemagazin Treffpunkteuropa. Zudem ist sie als Podcast Autorin beim BdV tätig und berichtet über Flucht und Vertreibung in Europa.