Ich konnte das für mich und das Kind nicht verantworten.“ Laura (*) ist 20 Jahre alt und studiert Germanistik an der Universität Heidelberg. Vor einem Jahr wurde sie ungewollt schwanger. Noch gut kann sie sich an den Moment erinnern, in dem ihr Bauchgefühl durch einen positiven Schwangerschaftstest bestätigt wurde. „Ich war geschockt“, so die Studentin. Mit ihrem Freund war sie zum damaligen Zeitpunkt erst zwei Monate lang zusammen, befand sich mitten im Studium und hatte somit nur geringen finanziellen Spielraum. Schnell musste sie feststellen, dass in ihrem Fall am Universitätsklinikum in Heidelberg keine Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Auch sonst gibt es in der Klinik- und Praxislandschaft in Heidelberg keine Möglichkeit für einen operativen Abbruch. Stattdessen müssen Frauen nach Ludwigshafen oder Mannheim ausweichen.
Nach Paragraph 218 des Strafgesetzbuchs gilt ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland als Straftat. Lediglich bei drei Ausnahmen wird von der Strafe abgesehen: Die weitaus häufigste Indikation, mit rund 96 Prozent, stellen Abbrüche nach Beratungsregelung dar. Der Eingriff kann bis zur zwölften Woche erfolgen, wenn mindestens drei Tage zuvor ein Beratungsgespräch durch eine staatlich anerkannte Stelle, wie Pro Familia, stattgefunden hat, so auch im Falle von Laura.
Die zweite Ausnahme stellt die medizinische Indikation dar. Dies gilt, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist. In der Praxis, so auch am Universitätsklinikum Heidelberg, findet diese Ausnahme Anwendung, wenn beim heranwachsenden Kind mit einer schweren körperlichen Beeinträchtigung zu rechnen ist.
Als dritter Punkt ist die kriminologische Indikation zu nennen, die greift, wenn eine Vergewaltigung zur Schwangerschaft geführt hat.
Es regnet. Im Innenhof der Marstallmensa treffe ich Karen Nolte. Als Leiterin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Heidelberg beleuchtet sie für uns die historische Entwicklung des Schwangerschaftsabbruchs. Schnell wird deutlich, wie sich die Thematik durch die gesamte Menschheitsgeschichte bahnt. „Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts lag das Wissen über den eigenen Körper und damit die Selbstbestimmung über diesen in den Händen der Frauen. Sie waren diejenigen, welche eine Schwangerschaft feststellen und über das werdende Leben in ihnen entscheiden konnten,“ so Nolte. „Mit Beginn der Akademisierung der Medizin verlagerte sich die Autonomie über den Körper und damit das Recht auf Reproduktion schrittweise von der Frau auf den Arzt.“
Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde das erste Strafgesetzbuch erlassen, worin Schwangerschaftsabbrüche erstmalig verankert waren. Der Umgang mit ungewollten Schwangerschaften variierte im Laufe der Geschichte und spiegelte dabei stets die Haltung der Gesellschaft und vor allem die Rolle und Selbstbestimmungsrechte der Frau wieder.
So standen Schwangerschaftsabbrüche in der NS-Zeit für „Arier“ unter Todesstrafe, während Zwangsabbrüche bei „Nicht-Ariern“ im Zuge der eugenischen Rassenlehre durchgeführt wurden. Der aktuell häufig diskutierte Paragraph 219a, welcher Werbung beziehungsweise Aufklärung über Abbrüche durch medizinisches Personal unter Strafe stellt, stammt ebenfalls aus dieser Zeit.
Dem Recherchezentrum „Corrective“ zufolge führen nur 40 Prozent aller Kliniken Schwangerschaftsabbrüche nach Beratungsregelung durch. Jedoch sind die Bundesländer nach Paragraph 13 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes in der Pflicht, ein „ausreichendes Angebot“ sicherzustellen. Während die Universitätskliniken in Tübingen, Freiburg und Berlin Abbrüche nach Beratungsregelung durchführen, ist dies am Universitätsklinikum Heidelberg seit rund 20 Jahren nicht mehr der Fall. Christof Sohn, der in diesen Jahren die Heidelberger Frauenklinik leitete, untermauerte die Entscheidung mit persönlichen, christlichen Gründen. Nolte merkt an: „Wir sind noch lange kein säkularisierter Staat. Der große Einfluss der Kirche ist eine Kontinuität.“ Sohn verließ im Februar diesen Jahres das Uniklinikum. Als neuer Direktor wurde vorübergehend Markus Wallwiener, Sohns ehemaliger Stellvertreter, ernannt. Ob dieser Wechsel in der Leitung auch einen anderen Umgang mit der Abtreibungsthematik bedeutet, frage ich beim Uniklinikum nach.
„Die zugrundeliegende Gewissensfrage ist wichtig und komplex. Sie wird laufend in der Ärzteschaft geführt“, lautet die Antwort des Klinikums. Die Gründe für und gegen Schwangerschaftsabbrüche nach Beratungsregelung seien eine individuelle Entscheidung der Mitglieder der Ärtzeschaft.
Die Medizin ist von starkem Ungleichgewicht geprägt
Im Jahre 2019 ergab eine anonyme Umfrage unter jener Ärzteschaft eine hundertprozentige Ablehnung der Durchführung von Abbrüchen nach Beratungsregelung. Die Notwendigkeit, diese Umfrage in der begrenzten Zeit der vorübergehenden Leitung erneut durchzuführen, zeige sich laut Klinikum nicht.
Die Medizin ist heute noch von starkem Ungleichgewicht geprägt. Mit 10 Prozent weiblich besetzten Professuren an der Medizinischen Fakultät Heidelberg, ist die Quote im Vergleich zu anderen Disziplinen gering. Besonders wenn man bedenkt, dass rund 60 Prozent der Medizinstudierenden weiblich sind. „Je diverser eine Universität, desto demokratischer die Strukturen, nicht nur im Bezug auf das Geschlecht“, folgert Nolte.
Während ein operativer Eingriff an keinem Ort in Heidelberg durchgeführt wird, gibt es mittlerweile zwei Frauenarztpraxen, die Schwangerschaftsabbrüche medikamentös durchführen. Diese sind jedoch auf offiziellen Seiten nicht einsehbar.
Im Gespräch mit der Leiterin der Beratungsstelle ProFamilia, Kirsten Schmitz, will ich mehr über die Realität der betroffenen Frauen erfahren. Dass ein Schwangerschaftsabbruch immer noch eine aufwendige Reise darstellt, verdeutlicht laut der Diplom-Sozialpädagogin die Dramatik der Lage: „Dem eigentlichen medizinischen Eingriff steht in den meisten Fällen ein Gespräch beim Frauenarzt bevor, um die Schwangerschaft abschließend zu bestätigen. Hinzu kommen das gesetzlich verpflichtende Beratungsgespräch und ein Aufklärungs- und Narkosegespräche beim Arzt. Viele der Frauen sind berufstätig und haben Kinder, was sie vor eine organisatorische Aufgabe stellt.“
Um die Versorgungslage sicherzustellen, sieht sie die Uniklinik in der Pflicht. Als Lehrkrankenhaus habe es einen großen Symbolcharakter, Schwangerschaftsabbrüche nach der derzeitigen Beratungsregelung als Teil der gynäkologischen Facharztausbildung zu vermitteln. „Es kann nicht sein, dass sich einzelne Ärztinnen und Ärzte gegen eine allgemeine Struktur durchsetzen müssen, wenn es um die Durchführung eines medizinischen Eingriffes geht. Vielmehr muss ein gesicherter Rahmen von einer Klinik vorgegeben werden, in welchem jedem Einzelnen die individuelle Entscheidungsfreiheit obliegt.“
„Keine Frau ist gerne ungewollt schwanger“, so Schmitz. Deshalb lautet ihr Wunsch für die Zukunft: „Jeder sollte den Begriff „Schwangerschaftsabbruch“ googeln können und eine breite Vielfalt an sachlichen Informationen zur Verfügung gestellt bekommen, sodass Frauen selbstbestimmte Entscheidungen treffen können.“ Außerdem brauche es eine umfassende Sexualaufklärung in Schulen, einen gesicherten und niedrigschwelligen Zugang zu Verhütungsmitteln und das Recht auf Beratung bezüglich aller Fragen sexueller und reproduktiver Themen.
Sie berichtet, dass nicht alle Frauenärzt:innen bei ungewünschten Schwangerschaften einen zeitnahen Termin und umfängliche Informationen anbieten. Manchmal warten Frauen zwei Wochen auf einen Termin – kostbare Zeit, wenn man sich bereits für einen Abbruch entschieden hat. Schmitz fordert eine feste Integration in die Gynäkologie: „Ein Gynäkologe muss wissen, dass ein Schwangerschaftsabbruch als medizinischer Eingriff Teil der gynäkologischen Tätigkeit ist, auch wenn die persönliche Entscheidungsfreiheit über eine Durchführung gewahrt bleiben soll.“ Ärzt:innen sollten wertneutral aufklären können und über die Rechtslage Bescheid wissen.
Im Rahmen des Medizinstudiums in Heidelberg wird in der gynäkologischen Lehre die Thematik vollständig ausgeklammert. Dabei ist die Behandlung medizinischer, rechtlicher und ethischer Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs im Gegenstandskatalog des IMPPs (Institut für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen) verankert. Auch in der Facharztausbildung Gynäkologie hat der Eingriff keinen festen Platz und es existiert kein medizinischer Leitfaden. Dieser ist jedoch für 2023 angekündigt. Die fehlende fachliche Kompetenz führt bis heute zu teils mangelhafter Durchführung des Eingriffs, zum Leidwesen der Frauen.
Die Thematik wird vollständig ausgeklammert
Am 27. Mai 2022 fand in Heidelberg zum ersten Mal in der Geschichte der Medizinischen Fakultät ein „interdisziplinäres fakultatives Seminar zum Schwangerschaftsabbruch“ für Medizinstudierende statt. „Ein historischer Moment“, so Lea, Medizinstudentin im zehnten Semester. „Seit Bestehen der Universität wurde noch nie eine Veranstaltung dazu angeboten. Es ist erschütternd, wie lange darauf gewartet werden musste“, fügt die Medizinstudentin hinzu. In der gynäkologischen Lehre in der Klinik erfährt sie im Moment hautnah, wie die Thematik keine Beachtung findet. Das dreistündige Seminar ist eine studentische Initiative des Arbeitskreises „Mit Sicherheit verliebt (MSV)“ der Fachschaft Medizin. Neben medizinischen und ethischen Apekten wurde die Gesprächsführung mit betroffenen Patientinnen vermittelt.
Michelle, Mitglied von MSV, leitet die Initiative von studentischer Seite. Etwa jede neunte Schwangerschaft wird abgebrochen, in Deutschland sind es im Jahr knapp 100.000. „Damit ist es ziemlich eindeutig, dass wir als Ärztinnen und Ärzte mit ungewollten Schwangerschaften unserer Patientinnen konfrontiert sein werden“, so die Heidelberger Studentin.
Selbst wenn der Schwangerschaftsabbruch weiterhin im Strafgesetzbuch geregelt bleibt, müsse die Aufklärung medizinische Pflicht sein. Als Ursache für den Rückstand sieht sie die gesellschaftliche und politische Tabuisierung, doch auch der rechtliche Rahmen tue nicht gut. „Schwangerschaftssabbrüche sind per Gesetz kein Recht, nur straffrei. Diese Definition gilt bei keinem anderen medizinischen Eingriff“, so Michelle.
Die rund 40 teilnehmenden Medizinstudierenden zeigten sich dankbar über das Angebot. „Wir lernen über jede noch so spezifische Krankheit, nur der Schwangerschaftsabbruch findet keine Beachtung“, so ein Student.
Das Seminar soll zum Wintersemester wiederholt und wissenschaftlich ausgewertet werden, um deutschlandweit anderen Universitäten als Konzept zur Verfügung gestellt zu werden. Das Ziel der studentischen Initiative ist klar: Eine Veranstaltung zum Schwangerschaftsabbruch als festen Pflichtbestandteil in die gynäkologische Lehre zu integrieren.
Über die tatsächliche Umsetzung des Vorhabens entscheidet laut Michelle letzten Endes jedoch die Gynäkologie der Uniklinik. Meine Anfrage an die Lehrbeauftragten bleibt bis Redaktionsschluss jedoch unbeantwortet. Laut Pressestelle des Uniklinikums müssten die Aussagen der Gynäkologinnen noch überarbeitet werden. Trotz wiederholter Nachfragen antwortet das Dekanat der Medizinischen Fakultät überhaupt nicht.
Die Worte von Kirsten Schmitz klingen nach: „Ungewollte Schwangerschaften gibt es, solange es Menschsein gibt. Es lässt sich nicht vermeiden. Die Frage ist, wie eine Gesellschaft damit umgeht und welche Strukturen sie schafft, zum Wohle der Allgemeinheit sowie zur freien Selbstbestimmung der Frau.“ Aktuell scheint es die Devise der Universität und des Klinikums zu sein, den Umgang mit der Thematik des Schwangerschaftsabbruchs möglichst zu vermeiden. Dabei fordert das universitäre Leitbild Heidelbergs „Semper apertus“ gerade diese Auseinandersetzung mit aktuellen Herausforderungen. „Sehr geehrter Herr Dekan der medizinischen Fakultät, Ihre Antwort ist gefragt!“
(*) Name von Redaktion geändert
...studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2021 für den „ruprecht“. Während im Studium die funktionellen Zusammenhänge des menschlichen Körpers im Vordergrund stehen, fasziniert sie bei ihrer Arbeit als Redakteurin der Mensch in seiner Gesamtheit. Besonders gerne tritt sie direkt mit den Menschen in Kontakt und interessiert sich für Einblicke in ihre Lebensrealitäten und Ansichten. So führte sie zahlreiche Interviews, zum Beispiel mit dem Comedian Florian Schroeder oder dem Lokalpolitiker Sören Michelsburg.