Das historische Spiegelzelt und die Sitzsäcke auf dem Universitätsplatz waren nur schwer zu übersehen: Vom ersten bis zum fünften Juni fanden die 28. Heidelberger Literaturtage statt, die nicht nur Leseratten kulturelle Höhepunkte boten. Den Heidelberger Organisator:innen gelang es auch in diesem Jahr, ein vielfältiges Programm aus Lesungen, Workshops, literarischen Führungen und künstlerischen Beiträgen in der UNESCO City of Literature aufzustellen. Neben dem Besuch im Spiegelzelt, in dem nicht nur Vorträge stattfanden, sondern auch verschiedene Heidelberger Buchhandlungen und Verlage vertreten waren, konnten die Veranstaltungen dieses Jahr zusätzlich über einen Livestream von zu Hause aus oder eine Übertragung am Uniplatz verfolgt werden. Von Islands First Lady und den „drei ???“ über Beiträge der studentischen Zeitschrift Mosaik bis hin zur Shortlist des Preises der Heidelberger Autor:innen – bei den Heidelberger Literaturtagen 2022 war für jede:n etwas dabei. Auch der ruprecht war auf der Suche nach literarischen Begegnungen und besuchte zwei ausgewählte Veranstaltungen.
Verfasst von Mona Gnan
Islands inspirierende Frauen
Eröffnet wurden die Heidelberger Literaturtage am 1. Juni von der kanadisch-isländischen Autorin Eliza Reid, besser bekannt als First Lady Islands. Im Gespräch mit Schriftstellerin Jagoda Marinić verriet Reid, warum der kleine Inselstaat bei der Gleichstellung der Geschlechter so erfolgreich ist, und gab Einblicke in ihr Buch „Secrets of the Sprakkar“.
„Plötzlich riefen ständig Leute bei uns zuhause an und schlugen vor, mein Mann solle für die Präsidentschaftswahl kandidieren“, erinnert sich Eliza Reid. Die Anrufe folgten auf einen Fernsehauftritt Jóhannessons, in dem er die Panama Papers-Krise kommentierte. So kam es, dass der Historiker 2016 tatsächlich zum isländischen Präsidenten gewählt wurde – und sich Reid auf einmal in der Rolle der First Lady wiederfand. „Es ist total befremdlich, in erster Linie als die Frau von jemandem bekannt zu sein, nicht als eigenständige Person“, berichtet Reid über diese Umstellung. Umso frustrierter war sie über einen Instagram-Beitrag Donald Tusks, ehemaliger Präsident des Europäischen Rates. Dieser versah ein Foto der First Ladys beim G7-Treffen in Biarritz mit der Bildunterschrift „Melania, Brigitte, Małgosia and Akie – The light side of the Force“. Reid wandte sich prompt an die New York Times und machte in einem Artikel deutlich, dass sie nicht die Handtasche ihres Mannes sei, die man bei öffentlichen Auftritten still neben ihm platziere.
Humorvoll erzählt sie von einem ähnlichen Erlebnis bei einem Staatsbesuch in Schweden. Alles sei minutiös durchgetaktet gewesen, der Besuch eine reine Choreografie. Als Reid während einer kurzen Fahrt zum nächsten Treffpunkt einen Ohrring verlor, stürzte sich die schwedische Presse auf das „Ereignis“ und titelte augenblicklich „Chaos at the King’s meeting“. Auch wenn Reid über die bizarre Berichterstattung lachen kann, sei es bedenklich, wie stark man Frauen immer noch nach Äußerlichkeiten beurteile. Sie setzt sich daher schon lange für Geschlechtergerechtigkeit ein und gesteht, dass ihr dies manchmal ironisch vorkomme – immerhin habe sie ihre Plattform größtenteils ihrem Mann zu verdanken.
In Ihrem Buch „Secrets of the Sprakkar” hat sie die verschiedensten Frauen Islands zu Wort kommen lassen, denn „Sprakkar“ bedeutet so viel wie außergewöhnliche Frauen. So erzählt sie zum Beispiel von einer Farmerin, die in unmittelbarer Nähe zu einem der gefährlichsten Vulkane Islands arbeitet. Die Erklärung der Farmerin, sie würde heute nichts erreichen, wenn sie ständig davon ausginge, der Vulkan breche morgen aus, ist laut Reid ein Paradebeispiel für die pragmatische Art des Inselvolks. Die First Lady hat aber auch ganz „normale“ Mütter, Unternehmerinnen und Sportlerinnen porträtiert, die oftmals der Auffassung gewesen seien, sie hätten nichts Außerordentliches erreicht und wären somit ungeeignet für Reids Buch. Dabei hat die Nation schon 1975 spüren können, was es heißt, auf die weibliche Bevölkerung verzichten zu müssen: Als eine Gruppe von Frauen zum „Women’s Day Off“ aufrief und 90 Prozent der Frauen ihre Arbeit niederlegten, war das Chaos groß. Noch heute erinnere man sich in ganz Island an gestrichene Flüge, nörgelnde Kinder, die ihren Vätern bei der Radiomoderation ins Mikrofon krakelten, oder auffallend schlechte Brote in den Kantinen. In Island habe man daher erkannt, dass Geschlechtergerechtigkeit keine Minderheitenangelegenheit sei, sondern die ganze Gesellschaft voranbringe.
Verfasst von Luzie Frädrich
Der Maghrebtag
„Sie sind Vater einer vierten Tochter geworden! – Mein Vater schlug die Hände über dem Kopf zusammen als er diese Nachricht erhielt“, erzählte die Autorin Asmaa al-Atawna. Sie und die Künstlerin Sabah Outasse waren am „Maghrebtag“ zu Gast bei den Heidelberger Literaturtagen.
Al-Atawna ist Journalistin und Kriegsreporterin. Sie wuchs in einem Flüchtlingslager in Gaza auf und floh mit 18 Jahren nach Frankreich. Sabah Outasse lebt heute ebenfalls in Frankreich, stammt aber aus Marokko. Doch beide befinden sich im selben Kampf – nämlich den für die Gleichstellung der Frau.
Al-Atawna eröffnete die Veranstaltung mit einer Stelle aus ihrem Buch „Keine Luft zum Atmen. Mein Weg in die Freiheit“ in der Originalsprache Arabisch. Thema des Buches ist vor allem Al-Atawnas private Lebensgeschichte.
Im Großen und Ganzen war die Veranstaltung weniger eine Lesung, sondern vielmehr ein Gespräch mit zwei interessanten Frauen. Beide gaben ihre Antworten auf Französisch, ein Dolmetscher übersetzte anschließend ins Deutsche.
So erzählte Al-Atawna von der doppelten Unterdrückung, die sie in ihrem Leben erfahren musste: auf der einen Seite durch ihren Vater, auf der anderen Seite durch die israelischen Besatzer.
„Mein Vater hat sowohl psychische als auch physische Gewalt gegen mich angewandt“, sagte Al-Atawna. Allerdings habe sich ihr Vater mit seiner rebellischen Tochter nicht anders zu helfen gewusst. Sie stamme aus einer Beduinenfamilie, in der man nur innerhalb der einzelnen Stämme heiraten dürfe. Aus diesen Rollenbildern habe sie ausbrechen wollen.
Zudem beschrieb Al-Atawna die Lebensverhältnisse im Flüchtlingslager in Gaza und schilderte den Nahost-Konflikt aus palästinensischer Perspektive. Eben diese komme in den europäischen Medien oft zu kurz. „Wenn der Israelische Jahrestag gefeiert wird, bedeutet das für meine Familie, dass mein
Großvater seine Ländereien verlassen musste, meine Großmutter durch die Fluchterfahrung ihren Verstand verloren hat und ich meine ursprüngliche Heimat nie sehen werde.“
Nach den eindrücklichen Schilderungen Al-Atawnas fiel es Sabah Outasse etwas schwer, den Übergang zu ihrem Teil der Veranstaltung zu finden. Aber auch sie machte klar, wie weit der Weg zur Gleichberechtigung noch sei. Auf Folien einer Powerpoint-Präsentation wurden im Hintergrund ihre Kunstwerke gezeigt. Eines davon kritisierte beispielsweise die Pille sowie die Tatsache, dass Verhütung immer noch hauptsächlich Sache der Frau sei.
Sie ging auch speziell auf die Verhältnisse in ihrem Heimatland ein: „In Marokko kann eine Frau, die für die von ihr angezeigte Vergewaltigung keine Beweise erbringen kann, im Gefängnis landen – wegen Ehebruchs.“
Verfasst von Laura Kress
...studiert Germanistik im Kulturvergleich und Geschichte. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Mona berichtet gerne über Kultur, die Welt und alle möglichen Diskurse. Eigentlich über alles, was die Gesellschaft gerade bewegt - oder bewegen sollte.
Luzie Frädrich studiert Politikwissenschaft und Economics. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Ihr Interesse gilt insbesondere politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, darunter auch feministische Themen.
Laura Kress studiert Jura und schreibt seit dem WiSe 2020 für den ruprecht. Besonders gerne widmet sie sich Themen im Hochschulbereich oder verfasst Glossen.