Seit etwa einem Jahr arbeitet Joosten Mindrup als Intendant des Heidelberger Zimmertheaters, das 1950 ursprünglich als Kollektiv gegründet wurde und damit das älteste Zimmertheater Deutschlands ist. Heute wird es als privates Theater vom Land Baden-Württemberg und der Stadt Heidelberg unterstützt. Dass das Theater abgesehen vom Job auch seine Leidenschaft ist, merkt man Mindrup sofort an. Er beschreibt, dass er als Intendant im Zimmertheater ungebunden ist, weil er Stücke auf die Bühne bringen kann, die er selbst schon immer gern sehen wollte. Als großen Vorteil des Zimmertheaters nennt er, dass er sich nicht mit komplizierten Probezeiten arrangieren muss und alles ohne Bürokratie funktioniert. Das Zimmertheater ist eine übersichtliche Truppe, so Mindrup, in der jede:r verschiedenste Aufgaben übernimmt, je nachdem wo gerade Unterstützung gebraucht wird.
Mindrup selbst war 15 Jahre lang als Schauspieler tätig, machte dann eine Zusatzausbildung zum Sprecherzieher und arbeitete schließlich als freier Regisseur. So war er auch im Zimmertheater angestellt, bis die vorherige Intendantin Ute Richter ihn schließlich ermutigte, sich auf die Stelle zu bewerben. Laut Mindrup ist er als einer der letzten noch auf dem „klassischen“ Weg Intendant geworden, heute bewerben sich häufig studierte Dramaturg:innen und Regisseur:innen für diesen Job.
Das Publikum wird durch den Bann der Erzählung und die unmittelbare Nähe zur Bühne mitgerissen
Das Zimmertheater beschäftigt sechs feste Mitarbeiter:innen und darüber hinaus viele temporäre Angestellte, meistens Schauspieler:innen. Im Gegensatz zu Stadttheatern gibt es hier kein festes Ensemble, sondern Verträge, die auf fünf Monate, in denen ein Stück aufgeführt wird, befristet sind. Bei drei bis vier Produktionen im Jahr wird ein Stück im Zimmertheater bis zu 100 Mal aufgeführt, was besonders durch die hohe Zuschauerresonanz möglich ist. Der Theatersaal beschränkt sich auf 93 Sitzplätze, die Bühne ist knapp davor platziert. Diese unmittelbare Nähe ist laut Mindrup eine große Chance für Schauspieler:innen und Publikum, eine Aufführung zu einem gemeinsamen Theatererlebnis werden zu lassen: „Unser Motto hier ist ‚dichter dran‘. Dichter dran am Atem der Schauspieler:innen. Die Zuschauer:innen sollen mitten im Geschehen sein.“ Tatsächlich ist das nicht zu viel versprochen: Aus der Perspektive eines Zuschauers lässt sich zuweilen nicht mehr zwischen Geschichte und Wirklichkeit unterscheiden. Mindrup erklärt, dass der kleine Theatersaal die Möglichkeit bietet, die sogenannte „vierte Wand“ (die imaginäre Wand zwischen Bühne und Publikum) fallen zu lassen. Während die Schauspieler:innen in üblichen Theatern vor der Herausforderung stehen, das Publikum während des Stücks auszublenden, entstehen bei einer Aufführung im Zimmertheater einmalige Interaktionen zwischen den Menschen auf der Bühne und denen in den Sitzreihen. Dabei muss man nicht fürchten, versehentlich in einem „interaktiven“ Theater gelandet zu sein, wo man sich plötzlich in grellem Scheinwerferlicht wiederfindet und sich die Sitznachbar:innen als Schauspieler:innen entpuppen: Im Zimmertheater wird das Publikum durch den Bann der Erzählung und die unmittelbare Nähe zur Bühne mitgerissen. Die Herausforderung dabei ist auch, so Mindrup, dass auf dieser Bühne nicht ‚geschummelt‘ werden kann: „Das Publikum kann im Gesicht des Schauspielers sehen, wenn er denkt. Und auch, wenn er nicht denkt (lacht). Hier bekommt man einen wirklichen Moment der Wahrheit. Alles ist echt. Das Innenleben der Figuren, und nicht nur deren Oberfläche, ist bis in die letzte Reihe hin erkennbar.“
Mindrup spricht außerdem über die Folgen der Coronapandemie für das Theater. Er nimmt an, dass die Leute zurückhaltender mit dem Besuch eines Theaters geworden sind, weil sie sich in der langen Zeit der Isolation doch an diesen Zustand gewöhnen konnten: „Natürlich, ich verstehe das: Zuhause mit Netflix – was ich selbst auch gern mal schaue – ist es schon gemütlich. Aber ich muss sagen, die Erwartungshaltung, dass die Leute nach dieser langen Zeit hungrig auf das Theater sind, auf dieses kollektive Erlebnis, hat sich erstmal nicht bestätigt.“ Das Zimmertheater konnte während der Pandemie nur 50-60 Prozent der Sitzplätze vergeben. Mindrup schildert, dass die leeren Reihen auch das Theatererlebnis beeinflussen: „Das habe ich oft beobachtet. Die Leute trauen sich nicht richtig zu lachen, wenn der Saal halb leer ist.“ Ein größeres Publikum steckt zum Lachen an. Doch auch nachdem eine hundertprozentige Sitzbelegung wieder möglich wurde, füllte sich der Saal nicht so schnell wie erhofft.
Zur Freude des Intendanten steigen die Besucherzahlen in der Tendenz aber. Mindrup hofft, in Zukunft mehr junge Leute für das Theater begeistern zu können. Er merkt an, dass die hoch geschätzten Stammgäste, die die vorherige Intendantin so erfolgreich für das Zimmertheater begeistern konnte, unausweichlich mit dem Theater gemeinsam altern: „Für diese Treue bin ich unglaublich dankbar, das Zimmertheater wäre ohne sie nicht vorstellbar. Aber wir möchten auch gern jüngere Leute adressieren. Wir sind jetzt auch mehr bei Social Media aktiv.“ Mit dem aktuellen Stück „Nipplejesus“ (Nick Hornby) sollte dieses Vorhaben gelingen. In dieser Geschichte wird auf charmante und komödiantische Weise über Kunst und deren Sinnhaftigkeit für den Rezipienten philosophiert.
Helena studiert Ethnologie und Soziologie seit dem Wintersemester 2020/21 und ist seit März 2021 bei ruprecht dabei.