Ich habe mich immer schlecht gefühlt, wenn ich etwas gegessen habe, was nicht so gesund ist – Weizenprodukte, Milchprodukte. Oft kam das vor, wenn ich keine Zeit hatte, etwas Gesundes zuzubereiten. Manchmal habe ich stattdessen lieber nur Snacks gegessen und keine richtige Mahlzeit, um diese Produkte zu umgehen. Ich hatte immer im Kopf, dass auf einer Packung viele schädliche Dinge draufstehen und hatte in gewisser Weise auch Angst, dass diese Dinge in ferner Zukunft Krankheiten verursachen.“
Die Art und Weise wie Laura*, eine Heidelberger Studentin, ihr Verhältnis zum Essen beschreibt, wird als Orthorexia nervosa bezeichnet. Bei Orthorexia nervosa handelt es sich um ein bisher nicht offiziell als Essstörung anerkanntes Krankheitsbild, bei dem die Betroffenen einer zwanghaft „gesunden“ Ernährung nachgehen. Der Begriff fiel erstmals 1997 in einem Erfahrungsbericht des Alternativmediziners Steven Bratman. Die genaue Definition folgte 2015 im Fachbuch „Gesund, gesünder, Orthorexia nervosa: Modekrankheit oder ernst zu nehmendes Störungsbild“. Die Wissenschaftler:innen Julia Depa, Svenja Humme und Christoph Klotter beschreiben Orthorexia nervosa als „eine überwiegend psychogene [Störung], welche von sozialen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst wird, in diesem Fall etwa die Tendenz unserer Gesellschaft, Nahrungsaufnahme mit rigiden Vorschriften zu verknüpfen.“
Nun lässt sich nicht jede ernährungsbewusste Person als orthorektisch einstufen. Ausschlaggebend ist der Zwang, dies zu tun, das Ausmaß und die Selbstbestrafung, die Orthorektiker:innen ausüben, wenn sie von ihren Ernährungsplänen abweichen. Was dabei genau gesund ist, entscheiden die Betroffenen selbst. Häufig nimmt die Kontrolle, die über das Essverhalten ausgeübt wird, mit der Zeit zu. Die Betroffenen achten auf immer mehr Aspekte ihrer Ernährung und beginnen, ihre Mahlzeiten umfassend zu planen. Nicht selten sind die Gedanken von dem Thema Essen bestimmt.
Steven Bratman beschreibt außerdem ein gewisses Überlegenheitsgefühl, das mit dieser strikten gesunden Ernährung einhergeht. Dieses Gefühl münde in den Drang, andere Menschen zu missionieren und über ungesunde Lebensmittel aufzuklären. So unterscheidet sich Orthorexia nervosa von anderen Essstörungen wie der Anorexia nervosa, bei welcher Betroffene eher versuchen, ihr Verhalten zu verstecken.
Orthorexia nervosa kann zu sozialer Distanzierung führen
Die Zwangsstörung kann sich auch auf das soziale Umfeld auswirken. Grund hierfür ist, dass Betroffene stark auf Herkunft, Nährstoffe und Zubereitung der konsumierten Lebensmittel achten. Um nicht die Kontrolle über die Inhaltsstoffe ihres Essens zu verlieren, vermeiden sie es, das Essen von anderen Personen zubereiten zu lassen. „Ich wollte nicht mehr so gerne bei anderen Menschen essen oder in Restaurants. Oft gibt es dort keine gesunden Gerichte und man weiß nicht, was im Essen drin ist“, erklärt Laura. Für viele andere Betroffene wird auswärts essen deswegen sehr schwierig, was mit einer sozialen Distanzierung von Mitmenschen führen kann.
„Gesund, gesünder, Orthorexia nervosa: Modekrankheit oder ernst zu nehmendes Störungsbild“ beschäftigt sich auch mit den möglichen Auslösern von Orthorexia nervosa. Die Autor:innen sehen einen Grund in dem Schönheitsideal der heutigen Gesellschaft. Schlank, sportlich und gesund zu sein, sei immer – und wenn nur unterbewusst – eine Ursache für Essstörungen. Den Betroffenen gehe es weniger um die Gewichtsabnahme. Wichtiger sei, gesund zu sein und zu bleiben. Da die Ernährungsweise und die permanente Angst vor schädlichem Essen dennoch zu einer Gewichtsabnahme führen kann, ist Unterernährung eine gefährliche Begleiterscheinung.
Das Krankheitsbild ist somit ziemlich paradox: Die körperliche Gesundheit zwanghaft erhalten zu wollen, führt letztlich dazu, dass sie massiv gefährdet wird. Als Laura begann, ihr orthorektisches Verhalten zu erkennen, beschäftigte sie sich viel mit ganzheitlicher Gesundheit und psychologischen Themen. Sie führt den Zwang auf emotionale Probleme zurück. „Die Umstellung der Ernährung hat mir in gesundheitlicher Sicht zwar sehr geholfen, aber irgendwann war es nur noch eine Ablenkung von den eigentlichen Problemen“, erzählt sie. „Ich denke, es ist wichtig, zu lernen in sich reinzuhören und sich zu fragen, warum man mit der Ernährung so streng ist und sich deswegen eventuell sogar zurückzieht.“
Helena studiert Ethnologie und Soziologie seit dem Wintersemester 2020/21 und ist seit März 2021 bei ruprecht dabei.