PRO: Julian Dietzschold Mitglied des Landesvorstands von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg
Seit fast fünf Monaten verteidigen sich die Menschen der Ukraine mutig gegen den brutalen Eroberungskrieg Russlands. Sie kämpfen dabei nicht nur für ihre eigene Freiheit und Unabhängigkeit. Es geht um die Freiheit ganz Osteuropas. Wenn es nach Wladimir Putin geht, würde sich das russische Einfluss – oder sogar Hoheitsgebiet schließlich bis nach Polen und in die skandinavischen Staaten hinein erstrecken. Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen, damit die russische Aggression rechtzeitig gestoppt wird. Und sie sollte danach so schnell wie möglich vollwertiges Mitglied der Europäischen Union werden. Denn es braucht eine starke demokratische Staatengemeinschaft, damit nicht auch noch weitere osteuropäische Staaten um ihre Unabhängigkeit kämpfen müssen. Von Anfang an spielte die Frage nach einer Mitgliedschaft der Ukraine in der EU eine zentrale Rolle und war Grund für die Konflikte am Maidan. Die Ukraine als EU-Mitglied sollte Putin nicht verhindern können.
CONTRA: Matthias Hartwig Verfassungsexperte am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg
Die Ablehnung der Ratifizierung des Assoziationsabkommens zwischen der Ukraine und der EU durch den seinerzeitigen Präsidenten Janukovich führte zur Maidan-Revolution 2014. Die Demonstranten forderten eine Annäherung an die EU und eine Abkehr von Russland. Die EU war seither stark in den Transformationsprozess in der Ukraine involviert, allerdings mit gemischten Ergebnissen. Insbesondere das Bemühen um eine unabhängige Justiz und der Kampf gegen die Korruption waren keine Erfolgsgeschichten. Zudem schwelte der bewaffnete Konflikt in der Ostukraine weiter, immer wieder angefacht durch die russische Unterstützung der Rebellen. Bis 2021 war wegen der zahlreichen weiter bestehenden Defizite ein Zeitpunkt für den Beitritt nicht ins Auge gefasst worden. Erst der von Russland begonnene Krieg wurde zum Vater der Erhebung der Ukraine in den Status eines Beitrittskandidaten.
These 1: Die Ukraine erfüllt die wichtigsten Voraussetzungen, um in die EU aufgenommen werden zu können
Dietzschold: Ob die Ukraine die Kopenhagener Kriterien, beziehungsweise die Kriterien zur Aufnahme von Verhandlungen, erfüllen kann, gilt es zu prüfen. Das qualifiziert einzuschätzen ist Aufgabe der EU-Institutionen. Dabei werden auch die häufig genannten Themen Korruption und Rechtsstaatlichkeit Beachtung finden. Der Ukraine den Status als Beitrittskandidat zu verleihen, war in jedem Fall ein richtiger Schritt und betont die Bedeutung der EU als Friedens-und Wertegemeinschaft. Die Ukrainer:innen sind in ihrer übergroßen Mehrheit leidenschaftliche Europäer:innen, wie sich über alle politischen Wirrungen seit der Orangen Revolution 2004 immer wieder gezeigt hat. Deshalb ist auch die Forderung der GrünenJugend, die Ukraine im Prozess um den Beitritt intensiv zu begleiten und Beistand zu leisten, um mögliche Barrieren schnellstmöglich aus dem Weg zu räumen.
Hartwig: Die EU hat 1993 klare Kriterien für die Mitgliedschaft aufgestellt. Dazu zählen stabile politische Institutionen, eine demokratische rechtsstaatliche Ordnung, Menschenrechts-und Minderheitenschutz, eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, die Pflichten aus der Mitgliedschaft zu erfüllen. Von der Erfüllung dieser Kriterien war die Ukraine –trotz Erfolgen auf Teilgebieten, etwa bei der Durchführung demokratischer Wahlen –noch entfernt: Die Tradition, dass abgewählte Präsidenten strafrechtlich verfolgt werden, wird fortgesetzt, ein eigenes Anti-Korruptionsgericht konnte nur auf Druck von ausländischen Staaten geschaffen werden, das Verfassungsgericht unterminierte die Antikorruptionsgesetzgebung und der Präsident suspendierte den Vorsitzenden des Verfassungsgerichts. Dazu kommt eine diskriminierende Sprachpolitik.
These 2: Ein beschleunigter Beitrittsprozess in die EU ist legitim in Hinblick auf den Krieg in der Ukraine
Dietzschold: Der Angriffskrieg Russlands hat mit sich gebracht, dass die Frage nach der Zukunft der Ukraine eine der drängendsten für die Zukunft Europas ist. Denn an ihr entscheidet sich, ob europäische Solidarität mehr als eine leere Phrase ist und ob wirklich alle demokratischen Länder selbstbestimmt entscheiden können, Teil der europäischen Familie werden zu wollen. Diese Entscheidung hat nicht Russland für seine Nachbarländer zu treffen, sondern ausschließlich diese Länder allein. Es ist für die Glaubwürdigkeit des europäischen Projekts essenziell, klarzumachen, dass nicht das Recht des Stärkeren festlegt, welche Länder aufgenommen werden und welche nicht. Also ja, es braucht sogar einen beschleunigten Beitrittsprozess, um den gestellten Herausforderungen entgegenzutreten.
Hartwig: Die Ukraine ist Opfer einer Aggression und verdient Unterstützung. Allerdings ist ein beschleunigtes Beitrittsverfahren die falsche Antwort auf die berechtigte Frage nach Solidarität. Die EU verlangt aus guten Gründen das Erreichen einer politischen und wirtschaftlichen Gleichwertigkeit als Beitrittsvoraussetzung. Andere Beitrittskandidaten mussten und müssen daher Jahre warten. In welch prekäre Lage die EU bei zu starken politischen und wirtschaftlichen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten geraten kann, zeigen die Wirtschaftskrise nach 2008 und die Konflikte mit Ungarn und Polen. Die ukrainischen Probleme bieten eine Sprengkraft, welche den Zusammenhalt in der EU zerstören könnte. Statt zu Hilfe käme die EU dann an ihr Ende. Der Krieg ist kein hinreichendes Beitrittskriterium. Mitleid ist kein Grund für Mitgliedschaft.
These 3: Bei der Vergabe des Beitrittskandidatenstatus an die Ukraine handelt es sich um reine Symbolpolitik
Dietzschold: Nein. Es handelt sich dabei nicht nur um eine leere Geste. Der Kandidatenstatus gibt den Menschen in der Ukraine Hoffnung und eine Perspektive, und sendet eine klare Botschaft nach Moskau. Es beweist auch die Handlungsfähigkeit und die Relevanz der Europäischen Union in einer Krisensituation. Es bleibt natürlich zu fordern, dass die begonnenen Prozesse auch konsequent weitergeführt werden. Und selbst wenn man befindet, ein Teil dieser Maßnahme sei Symbolik, dann ist die Frage: Wann war Symbolkraft und ihre Implikationen von Überzeugungen, Werten, Motivationen und Intentionen wichtiger als zurzeit? Oder anders gefragt: Was würde es symbolisieren, wenn wir der Ukraine den Beitrittskandidatenstatus verwehren würden? Denn unsere Intention ist hoffentlich, der Ukraine auch in dieser Form Beistand zu leisten.
Hartwig: Die Verleihung des Beitrittskandidatenstatus kann in zweierlei Hinsicht als symbolisch verstanden werden. Russland zeigt, dass der Versuch derIsolierung der Ukraine nach hinten losgeht. Für die Ukraine bleibt der Kandidatenstatus ein Zeichen. Er kann Jahrzehnte andauern, in denen vor allem Forderungen von der EU herangetragen werden, ohne dass die Kandidaten schon in die Segnungen der EU-Leistungen kommen. Dass die EU die Ukraine aufnimmt, solange Russland seine Aggression fortsetzt, erscheint im Hinblick auf die aus der Mitgliedschaft folgenden Beistandsverpflichtungen nach dem EU-Vertrag ausgeschlossen. An der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Lage der Ukraine ändert der Kandidatenstatus nichts. Dessen Verleihung ist für die EU die billigste Form einer zu nichts verpflichtenden Symbolpolitik.
...studiert Germanistik im Kulturvergleich und Geschichte. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Mona berichtet gerne über Kultur, die Welt und alle möglichen Diskurse. Eigentlich über alles, was die Gesellschaft gerade bewegt - oder bewegen sollte.
Ich wäre dafür dass die Ukraine der EU beitreten sollte, da die EU mit der Ukraine eine viel stärkere Nation wird