Moria: Noch heute steht der Begriff sinnbildlich für das Versagen europäischer Asylpolitik. Doch spätestens, seitdem der Ukrainekrieg ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit gerückt ist, wirkt das Elend an den anderen Grenzen Europas wie vergessen. Warum dort noch immer zahlreiche Menschen sterben, wollen die Journalistin Sham Jaff und die auf Lesbos lebende Reporterin Franziska Grillmeier im neuen Spotify Podcast „Memento Moria“ aufklären, und zeichnen dabei ein ganz neues Bild von Europa.
25 Menschen kommen auf Lesbos an, verstecken sich die ganze Nacht im Wald und warten auf Hilfe. Am nächsten Morgen sperren maskierte Männer die Straßen ab, die türkische Küstenwache findet dieselbe Gruppe wenig später unterkühlt und ausgehungert auf einer Rettungsinsel im Meer vor. Diese Schilderungen der ersten Folge werfen viele Fragen auf, die es zu beantworten gilt. „Ich verspreche euch, ihr werdet danach einen ganz anderen Blick auf Europa haben“, verkündet Moderatorin Jaff zu Beginn des Podcasts. Grillmeier berichtet in dieser Folge von einer bizarren Gleichzeitigkeit: Zu Kriegsbeginn in der Ukraine macht sie sich auf den Weg, um von der Grenze aus zu berichten. Dort nimmt sie eine enorme Solidarität wahr und resümiert: „Der erste Impuls war: Es ist möglich, dass sich 27 europäische Mitgliedstaaten darauf einigen, eine würdevolle und dem Völkerrecht entsprechende Aufnahme von schutzbedürftigen Menschen in Europa anzubieten“. Doch eine zweite Nachricht trübt ihren Optimismus: An einem Strand auf Lesbos, an dem sie morgens noch vorbeigefahren ist, werden im Laufe des Tages sieben tote Menschen angespült. Wie Grillmeier betont, dürfe man die zwei Ereignisse aber nicht zu nah zusammenbringen: „Das war uns auch bei dem Podcast wichtig, nicht das Leid der einen gegen das der anderen aufzuwiegen, sondern einfach zu sagen: Es ist ja möglich, nach der eigens auferlegten Schutzverantwortung der Genfer Fluchtkonvention zu handeln, wenn das politisch gewollt ist.“
In Folge zwei trifft sich Grillmeier mit einem alten Bekannten aus Moria. Beim Kontaktaufbau mit den Menschen vor Ort spiele Zeit und Vertrauen eine große Rolle. „Ich glaube, eines der schwierigsten Dinge als geflüchtete Person ist, dass von dir erwartet wird, ein ständiges Auskunftsschild auf der Stirn zu tragen. Kurz nach deiner Flucht gibst du einen Großteil der Kontrolle über dein Leben ab und bist 24 Stunden am Tag transparent, musst Informationen geben, wie alt du bist und wo du herkommst und jeden Schritt rechtfertigen, den du tust“, meint Grillmeier. Daher habe sie nicht nur scharfe Fragen stellen wollen, sondern oft mit den Bewohner:innen des Lagers Karten gespielt oder gemeinsam gegessen.
„Man hätte Moria innerhalb weniger Tage aufräumen können“
Durch das Coronavirus verschlechtert sich die humanitäre Lage in Moria weiter: Es herrscht eine strikte Ausgangssperre, Wasser und medizinische Versorgung gibt es kaum. Im September 2020 eskaliert die Situation und Moria brennt nieder. Wie es dann weitergeht, wird in Folge drei thematisiert. Für Grillmeier gilt der März 2020 als Knackpunkt. Denn die Türkei habe ihre Grenzen geöffnet und Europa sei in Hysterie verfallen: „Ursula von der Leyen bezeichnete Griechenland damals als Schutzschild Europas. Da muss man sich fragen: Gegen welche Armee eigentlich?“. Es folgt ein neues Camp, das die Bewohner:innen weiter abschottet. Auch Grillmeiers Arbeit wird eingeschränkt: Besuche im Camp sind nur noch als geführte Pressetour in Begleitung der Polizei möglich. Auf der Suche nach Antworten spricht sie mit dem griechischen Migrationsministerium und konfrontiert die EU-Kommission. Grillmeier ist sich sicher: „Man hätte Moria innerhalb weniger Tage aufräumen können, es hätte funktioniert. Aber der politische Wille war nicht da, denn man wollte dieses Abschreckungskonstrukt aufrechterhalten“.
Diese Einschätzung wird in Folge vier und fünf gefestigt. Zunächst zeigt der Podcast die systematische Einschüchterung von Kritiker:innen und Beobachter:innen auf. Nach abstrusen Festnahmen und Urteilen ziehen sich sämtliche Hilfsorganisationen zurück. Zusätzlich spielen Pushbacks eine immer größere Rolle. Beweise gebe es schon lange, allerdings sei die Recherche enorm eingeschränkt, erklärt Grillmeier. Sie selbst habe im Frühjahr ebenfalls Berufsverbot für das Militärsperrgebiet um den Grenzfluss Evros bekommen, in dem sich häufig Pushbacks abspielen sollen. Umso wichtiger sei es, einzelne Stimmen zu finden, die den Mut haben, ihre Erfahrungen zu teilen. „Memento Moria“ ist dies mit den fesselnden Erzählungen einer Pushback-Überlebenden gelungen.
Der Luxus an dem Podcast, so Grillmeier, sei der Raum. In den acht Folgen habe man sich die Zeit nehmen können, um zu erklären, was dahintersteckt. Dabei sei es Jaff, Grillmeier und ihrem Team wichtig, kein Vorwissen vorauszusetzen, was durch die Interviews mit Expert:innen und Poltiker:innen gewährleistet wird. Im Vordergrund sollen aber stets die Menschen stehen, die das Beschriebene erlebt haben. Diesem Anspruch wird „Memento Moria“ auf alle Fälle gerecht. Der Podcast ist gleichermaßen informativ und bewegend. Er rüttelt wach, macht fassungslos und lädt dazu ein, unser Image von Europa zu überdenken. Die letzte Folge erscheint am 21. Juli.
Luzie Frädrich studiert Politikwissenschaft und Economics. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Ihr Interesse gilt insbesondere politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, darunter auch feministische Themen.