Als sich Ursula von der Leyen am Nachmittag des 17. Juni 2022 in einem blau-gelben Outfit vor die Presse stellt, dämpft die EU-Kommissionspräsidentin die Hoffnungen vieler Georgier:innen, die sich einen raschen EU-Beitritt wünschen: Die Kommission biete Georgien eine „europäische Perspektive“, aber bevor das Land den Status eines Beitrittskandidaten erhalte, müsse es zunächst weitere Bedingungen erfüllen. Dazu veröffentlicht die EU direkt zwölf Empfehlungen für strukturelle Reformen, deren Umsetzung Menschenrechte und Pressefreiheit in dem kaukasischen Land stärken sollen. In Georgien mobilisiert die Enttäuschung darüber die zivilgesellschaftliche „Home to Europe“-Bewegung, bereits drei Tage später versammeln sich in der Hauptstadt Tbilissi schätzungsweise 60 000 Menschen. Sie fordern den Rücktritt der russlandfreundlichen Regierung und träumen von einer europäischen Zukunft. Viele halten Europa-Flaggen hoch und singen die Hymne der EU. Hinterher werden die Organisator:innen von einem „monumentalen Tag“ sprechen und davon, dass Georgien seit Jahrzehnten nicht mehr solche Menschenmassen gesehen habe.
Laut Umfragen befürworten fast 85 Prozent der Bevölkerung eine Annäherung an die EU. Auch die 29-Jährige Natia geht am 20. Juni für europäische Werte auf die Straße. Für sie steht das Land vor einem Wendepunkt: „Wollen wir Europa, oder wollen wir unter russischem Einfluss sein?“. Das Versprechen der Regierung, sich der EU anzunähern, hält, Natia für unglaubwürdig. Stattdessen agiere die Regierung als „rechte Hand Putins“, auch die Bemühungen der parteilosen Präsidentin Salome Zourabichvili seien für sie nicht effektiv. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar kommt es auch in Georgien zu spontanen Solidaritätsbekundungen. „Wir waren alle schockiert, niemand hat geglaubt, dass Russland das wirklich machen würde“, erzählt Natia. Als der Premierminister Irakli Garibashvili einen Tag später bekannt gibt, dass Georgien sich nicht den internationalen Sanktionen gegen Russland anschließen werde, beginnen die Demonstrationen und Rücktrittsforderungen. Bald darauf vereinigen sich mehrere Menschenrechtsorganisationen in der „Home to Europe“-Bewegung. „Democracy Defenders“ ist eine davon. Ihr Mitbegründer Rapiel Kakabadze beschreibt die Vielfalt der Bewegung: „Man sah eine große Bandbreite an Altersgruppen, von Schulkindern bis hin zu Rentnern. Außerdem hatten wir das Ziel, den Protest nicht ‚exklusiv‘ zu gestalten. Bei jeder Veranstaltung sprachen Menschen aus verschiedenen Berufen und Ethnien.“ Er kämpfe seit Jahren für Reformen und bemängelt, dass kein wirklicher politischer Wille dafür bestehe: „Was wir sehen, sind kleine Veränderungen, die keinerlei Auswirkungen haben.“
Im Fokus der Proteste steht Bidzina Ivanishvili. Der Milliardär gilt als Oligarch und Strippenzieher in der georgischen Politik. Sein Vermögen erwirtschaftete er in Russland, zeitweise gehörte ihm ein Prozent des russischen Energiekonzerns Gazprom. Bei seinem Wechsel in die Politik versprach er, die russische Staatsangehörigkeit abzulegen und all seine Firmenanteile in Russland zu verkaufen, – was laut der NGO „Transparency International“ bis heute nicht vollständig erfolgt sein soll. Die von ihm 2012 gegründete Partei „Georgian Dream“ schaffte es im selben Jahr in die Regierung und gewann seither jede Wahl. 2021 trat Ivanishvili als Parteivorsitzender zurück und gab seinen Rückzug aus der Politik bekannt.
Auch das EU-Parlament hält ihn weiterhin für einflussreich. In einer Resolution fordert eine Mehrheit der Abgeordneten, dass Ivanishvili sanktioniert wird. Und obwohl „De Oligarchisierung“ auf der Zwölf Punkte-Liste der EU-Kommission steht, beharrt die georgische Regierung darauf, dass Ivanishvili kein Oligarch sei. Kakabadze widerspricht: „Kein Oligarch würde zugeben, dass er den politischen Prozess in irgendeiner Weise beeinflusst, aber wenn man sich die Minister oder andere hochrangige Politiker genauer ansieht, stellt man fest, dass alle entweder eng mit Ivanishvilis ‚Cartu Bank‘ verbunden sind, seine Geschäftspartner waren oder ihm auf andere Weise nahestehen.“
Am 24. Juni findet die nächste große Demonstration statt. Wieder kommen zehntausende Menschen. Diesmal erhält die Regierung eine Deadline: Bis zum 3. Juli soll sie zurücktreten, damit eine Übergangsregierung die EU-Empfehlungen durchsetzen kann. Andernfalls würden ab diesem Datum ununterbrochene Proteste folgen. Natia ist skeptisch:„Wir haben so lange protestiert und nichts gekriegt“. Dennoch hofft sie auf einen Erfolg und zieht mit ihrer Familie am 3. Juli vor das Parlamentsgebäude. Ihre Freund:innen sind nicht gekommen, Natia hält sie für protestmüde. „Wenn die Leute bereit sind, regelmäßig zu gehen und nicht nur einmalig, dann kann sich was ändern“, glaubt sie. Natia bleibt nicht lange, sie bekommt nicht mehr mit, wie die Deadline um Mitternacht verstreicht. Nur wenige Aktivist:innen verbringen die Nacht vor dem Regierungssitz, bis die Polizei die Versammlung am Morgen auflöst und der Bewegung damit ein vorläufiges Ende setzt. Dem ruprecht erklärt Kakabadze später, dass es ein gewisses Ungleichgewicht gegeben hätte: zwischen dem, was die Leute wollten, und dem, was sie ihnen als Organisator:innen hätten bieten können. Auch Natia resigniert: „Die Proteste sind gescheitert!“
...hat in Heidelberg Informatik studiert und war zwischen 2020 und 2023 Teil der ruprecht-Redaktion. Ab dem WiSe 2021 leitete er das Feuilleton und wechselte im WiSe 2022 in die Leitung des Social-Media-Ressorts. Im Oktober 2022 wurde er zudem erster Vorsitzender des ruprecht e.V. und hielt dieses Amt bis November 2023.