Ein alter Küchenschrank mit pastellfarbenen Türen, ein blauer Vintage-Kühlschrank, zwei blaue Stühle, ein Holztisch mit leicht angeschrägten Beinen, darauf eine kleine weiße Tischdecke, eine Flasche Rotwein und zwei Gläser: Das Bühnenbild im großen Saal des Interkulturellen Zentrums gleicht mit seiner verspielten Einrichtung einer Küche aus den 70er Jahren und steht im starken Kontrast zu den schwarz angestrichenen, eisernen Streben und Säulen des ehemaligen Industriegebäudes. Zu Gast sind heute Abend Jagoda Marinić, die Leiterin des Interkulturellen Zentrums, und Carlo Masala, Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Dass es sich bei dem Format Talk am Tisch um ein persönliches Gespräch handelt, bei dem das Publikum „Mäuschen“ spielen darf, wird schnell deutlich: Marinić und Masala betreten die Bühne ohne Begrüßung oder Einleitung, sie setzen sich, schenken sich Rotwein ein und beginnen ihr Gespräch mitten im Thema.
„Deutschland ist eine sehr apokalyptische Gesellschaft“, so Carlo Masala. Der letzte Weltkrieg habe tiefe Spuren hinterlassen. Der kalte Krieg sei immer noch präsent und die Angst vor einer nuklearen Auseinandersetzung groß. Putin mache in seinen Reden rhetorische Unterschiede, wobei mit Blick auf Deutschland die Angst der deutschen Gesellschaft bewusst instrumentalisiert werde. Masala wirkt nicht als habe er Angst: „Wer als erstes schießt ist als zweiter tot.“ Dennoch betont er, dass harte Jahre auf uns zukommen werden. Ein baldiges Ende des Krieges sei nicht absehbar.
Der Politikwissenschaftler lehrt und forscht an der Universität der Bundeswehr München und berät verschiedene Bundesministerien zu internationalen Konflikten und militärischen Auseinandersetzungen. Wie auch viele andere Expert:innen schätzte er die Entwicklungen im Russland-Ukraine Konflikt anfänglich falsch ein: „Wenn du über Krieg forschst und es ist gerade einer da, dann gibt es wortwörtlich den Nebel des Krieges.“ Wichtig sei es am Ende vor allem seine Einschätzungen falsifizieren zu können, anstatt sie zwanghaft in ein Schema pressen zu wollen. So kann er aus heutiger Perspektive sagen, dass er in seinen Analysen den Einfluss weicher Faktoren unterschätzt habe: „Die enge Zusammenarbeit zwischen Armee und Gesellschaft, wie sie in der Ukraine praktiziert wird, ist eine Besonderheit.“ Ukrainische Bürger:innen schicken Koordinaten über den Aufenthalt des russischen Militärs an die eigene Armee. Auch sei eine sehr dezentrale Militärstruktur zu beobachten. „Der Kommandeur kann froh sein, wenn gesagt wird, was gemacht wurde.“
Wie auch Jagoda Marinić unterzeichnete der promovierte Politikwissenschaftler vor einigen Monaten einen offenen Brief an den Bundeskanzler Scholz, in dem für die kontinuierliche Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine plädiert wurde. Putins Ziel sei es, die Existenz eines souveränen Staates auszulöschen. „Für ihn gibt es keine ukrainischen Bürger, das sind alles Russen. Die Waffen führen dazu, dass es heute noch eine Ukraine gibt.“ Dabei gehe es letzten Endes um zwei Dinge: die Ukraine und die liberale Weltordnung. Die Vision Frieden durch Handel in Europa zu sichern ist durch den russischen Angriffskrieg endgültig zerstört worden. Bereits 2008 kündigte Putin an, sich in einem neuen kalten Krieg zu befinden, indem Kooperation keinen Raum zu haben scheint. „Etwas großes ist kaputtgegangen und wir haben nichts gemerkt,“ so Masala. Im weiteren Gespräch zeichnet er ein Szenario vor dem Hintergrund eines Sieges Russlands auf. Er spricht von möglichen weiteren Angriffskriegen auf weitere liberale Länder wie Moldawien und Georgien. Schlussendlich folgert er, dass in der Ukraine unsere Sicherheit verteidigt wird.
Später schweift sein Blick weiter auf die globale Weltordnung. In dieser überschätze Europa seine geopolitische Lage grundlegend. Vielmehr müsse Stellung zwischen den „großen Gorillas“ USA und China bezogen werden. Auch müsse der Westen sein Wertesystem neu definieren. Letzten Endes seien immer Deutschland der wichtigste Handelspartner der „richtig bösen Staaten“. Für was steht nun also der große Westen? Nur leere Werte?
Gelingen könne eine ehrlich liberale Haltung nur, wenn wir den Begriff Wohlstand überdenken. „Der Zynismus an der Welt ist, dass Gott die Rohstoffe dorthin geschmissen hat, wo autoritäre Regime sitzen.“
Auch wenn das Gespräch am Küchentisch recht authentisch und persönlich wirkt, spiegelt sich die Anwesenheit des Publikums wider, wenn Marinić etwa die Weinflasche in den Hintergrund stellt und Masalas Buch flach auf den Tisch legt, damit sie nicht die Sicht versperren, oder aber bei der Gesprächsüberleitung vom Krieg in der Ukraine hin zum Migrationshintergrund Masalas. Diese erfolgt, wenn auch etwas abrupt, über Masalas Nachnamen und die Einrichtung der Küche: „Unsere war nicht so bunt, aber ähnlich war sie schon“, vergleicht er das Bühnenbild mit der Küche seiner Eltern in Köln, wo er geboren und aufgewachsen ist. Als Sohn einer österreichischen Mutter und eines italienischen Vaters habe Masala häufig Opposition in der deutschen Gesellschaft aufgrund seines Migrationshintergrundes erfahren. Zudem hat er als erster in seiner Familie das Abitur gemacht und studiert. Besonders betont er, dass sein akademischer Werdegang keineswegs normal oder selbstverständlich für ihn sei: „Es ist nicht das Gefühl, dass es mir nicht zusteht, sondern eher das Gefühl, dass ich meinen Platz in dieser sozialen Gruppe der Wissenschaftler immer wieder behaupten muss.“ Dieses Gefühl habe ihn unter anderem zu seiner jetzigen „Ist mir egal“-Einstellung geführt: „Ich mache das, was ich machen will, versuche keinem, außer inhaltlich, dabei auf die Füße zu treten und mache mein Ding.“
In seinem Abiturjahrgang sei Masala zusammen mit vier anderen aufgrund ihrer Migrationshintergründe in der Minderheit gewesen. Damit sei eine gewisse Außenseiterposition einher gegangen. Häufig sei er damit konfrontiert worden, dass er Ausländer sei – wenn auch über Streitigkeiten oder über die Gerüchteküche. Angewohnheiten, die unter anderem auf kulturelle Unterschiede zurückzuführen sind, wie die laute Art zu reden, das berühren von Gesprächspartner:innen am Arm und das Unterbrechen von anderen Menschen in einer Diskussion, was in Italien, und laut Marinić auch in Kroatien ein Zeichen für eine engagierte und interessierte Teilnahme am Gespräch sei, habe er sich Aufgrund der deutschen Distanziertheit teilweise abgewöhnen müssen.
Besonders auf Marinićs Frage, ob Masala häufig racial profiling erlebt habe, kann er einige Beispiele nennen: „Ich bin alle Nase lang von der Polizei aufgegriffen und kontrolliert worden. Immer mit der Begründung, dass irgendjemand im Umkreis, der mir irgendwie ähnlichsah, irgendwas gemacht hat. Ich habe lange Zeit gedacht: Ich muss so ein Allerweltsgesicht haben!“ Derartige Erlebnisse hätten auch Aggressionen in ihm hervorgerufen, hauptsächlich gegen die deutsche Gesellschaft. Bis er Mitte zwanzig war, habe er sich auch nicht vorstellen können, in Deutschland zu bleiben, erklärt Masala. Erst mit Ende zwanzig sei er schließlich Deutscher geworden. Er selbst identifiziere sich als italienischer Deutscher oder deutscher Italiener. Verschiedene Rassismuserfahrungen hätten ihn teilweise zwar geprägt, jedoch mache er nicht seine Persönlichkeit daran fest: „Ich bin genauso ein legitimer Teil dieser Gesellschaft wie jeder andere. Diese Gesellschaft hat mir auch viel gegeben. Den sozialen Aufstieg hätte ich in Italien nicht so einfach machen können.“ In seinen Augen sei die deutsche Gesellschaft weniger hierarchisch und durchlässiger als die italienische.
Nach einigen Gläsern Wein und einem zweistündigen Gespräch über das aktuelle Weltgeschehen und interkulturelle Erfahrungen beenden Marinić und Masala ihren Talk am Tisch: „Licht aus?“ – „Licht aus!“. Was dem Publikum beim nach Hause gehen bleibt, sind vielfältige Impulse zur aktuellen politischen Lage und zu Deutschland mit seiner multikulturellen Gesellschaft. Es sind Impulse aus einem zwar moderierten, aber doch offenen Gespräch, das ähnlich in einer richtigen Küche hätte stattfinden können. Dann aber ohne Publikum, ohne Scheinwerfer und ohne Mikrofone – und vielleicht mit mehr Wein.
...studiert Germanistik im Kulturvergleich und Geschichte. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Mona berichtet gerne über Kultur, die Welt und alle möglichen Diskurse. Eigentlich über alles, was die Gesellschaft gerade bewegt - oder bewegen sollte.
...studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2021 für den „ruprecht“. Während im Studium die funktionellen Zusammenhänge des menschlichen Körpers im Vordergrund stehen, fasziniert sie bei ihrer Arbeit als Redakteurin der Mensch in seiner Gesamtheit. Besonders gerne tritt sie direkt mit den Menschen in Kontakt und interessiert sich für Einblicke in ihre Lebensrealitäten und Ansichten. So führte sie zahlreiche Interviews, zum Beispiel mit dem Comedian Florian Schroeder oder dem Lokalpolitiker Sören Michelsburg.