Erinnerst du dich noch daran, wie du das Sprechen gelernt hast? An die unzähligen Stunden des Auswendiglernens von Vokabeln und das Pauken von Grammatikregeln, wie auch aktuell in deinem Kurs im Sprachlabor? „Natürlich nicht!“, wirst du jetzt wohl denken. Du erinnerst dich zwar nicht daran, aber Kinder lernen ihre Muttersprache scheinbar mühelos im Alltag. Sie brauchen dazu nicht mehr als das, was sie in ihrer unmittelbaren Umgebung hören, sehen und tun.
Gerade weil wir dazu so wenig Aufwand betreiben mussten, sehen wir Sprache schnell als selbstverständlich an. Mitnichten! Denn nur durch sprachliche Einflüsse erkennen Kinder in ihren täglichen Erfahrungen unbewusst sprachliche Muster und Regeln wie Wortzusammenhänge, Wortarten oder Satzbau. Nur so lernen sie auch, diese korrekt anzuwenden.
Seltene Fälle stark vernachlässigter Kinder zeigten, dass dieser Lernprozess nur innerhalb eines begrenzten Zeitraums möglich ist. Dabei handelt es sich um sogenannte Wolfskinder, also Kinder, die isoliert von anderen Menschen und ohne einen sprachlichen Input aufgewachsen sind. In den 1990er Jahren gab es beispielsweise zwei Fälle aus der Ukraine, in denen Kinder über Jahre nur unter Hunden aufgewachsen sein sollen. Neben einem geschädigten Sozialverhalten hatte dies zur Folge, dass die Kinder kaum noch sprechen lernen konnten.
Eines der bekanntesten Beispiele jedoch ist das Mädchen Genie aus den USA. Sie wurde zwar nicht unter Tieren groß, jedoch von ihren Eltern wie eines gehalten – in fast völliger Abkapselung und ohne sprachlichen Einfluss. Als sie dann nach 13 Jahren befreit wurde, war sie wegen ihres tragischen Schicksals ein sehr interessantes Forschungsobjekt für mehrere wissenschaftliche Disziplinen. So auch für die Linguistik.
Nach jahrelangem Sprachtraining stellte sich heraus, dass Genie zwar eine bemerkenswerte allgemeine Intelligenz hatte und dadurch Vokabeln gut lernte. Jedoch war es ihr nicht mehr möglich, diese in eine grammatische Struktur zu bringen. Wie auch bei den beiden Wolfskindern aus der Ukraine zeigt dieser Fall, dass es ein Zeitfenster geben muss, um grammatische Strukturen zu erwerben – und dass dieses Fenster sich noch vor dem Alter von 13 Jahren schließt.
Das Phänomen der Wolfskinder stützt auch die Theorie der „generativen Grammatik“ des Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky. Demzufolge wohnen jedem Menschen die gleichen Sprachstrukturen inne. Wärst du also als Adoptivkind direkt nach der Geburt einer französischen Familie übergeben worden, würdest du nun genauso perfekt Französisch sprechen, wie du jetzt vielleicht Deutsch sprichst, weil du in einer deutschsprachigen Familie aufgewachsen bist. Diese Fähigkeit liegt in uns allen. Theoretisch gilt sie sogar für mehrere Sprachen, die wir in sehr jungen Jahren mühelos gleichzeitig erlernen könnten.
Marcel Impertro studiert Anglistik und Germanistik im Master und ist seit dem Sommersemester 2022 beim ruprecht. Am liebsten schreibt er über wissenschaftliche Themen.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.