„Du hast ein Recht auf Schmerztherapie. Die Leute haben dir zu glauben!“ Katharina van Stein ist Neuropsychologin an der Heidelberger Uniklinik. Mit ihrem Team forscht sie unter der Leitung von Beate Ditzen seit mehr als zwei Jahren zu chronischen Unterleibsschmerzen bei Endometriose. Das ist eine weit verbreitete Krankheit, die meist mit starken Schmerzen einhergeht.
Bei Endometriose-Patient:innen wachsen gebärmutterschleimhautähnliche Zellen außerhalb des Uterus. Die Folge dieser unterdiagnostizierten Krankheit können chronische Schmerzen sein. Entzündungsprozesse oder Vernarbungen können den Schmerz verstärken. Die möglichen Lösungen sind vielfältig: Neben Hormongabe und Operation kann auch Psychotherapie deutlich helfen.
In den letzten Jahren hat Endometriose durch die Medien eine breite Öffentlichkeit erreicht. Auch der ruprecht schrieb über die Krankheit. Weniger bekannt ist allerdings die Rolle des Zentralen Nervensystems (ZNS). Das ZNS ist die wichtigste Schaltstelle des Körpers, was Schmerzen betrifft. Wenn wir etwa unsere Hand auf den heißen Herd legen, werden Impulse ans Rückenmark gesendet, die wiederum ans Gehirn weitergeleitet werden. Das Gehirn und nicht die Hand selbst sorgt für die Schmerzwahrnehmung.
Eine Ausnahme ist chronischer Schmerz, der produziert wird, obwohl nicht aktiv eine Handlung vorausgeht. Dies kann auch bei Endometriose auftreten. In diesen Fällen kann es sein, dass auch eine Operation nicht weiterhilft. „Der Körper hat erlernt, Schmerzen zu empfinden“, so van Stein. „Dies muss dann wieder entlernt werden.“ Durch Chronifizierung sind bei Endometriose Schmerzen auch außerhalb der monatlichen Periode möglich. Außerdem können psychische Faktoren den Schmerz verschlimmern. Ein zusätzliches Problem ist es, dass einige Gynäkolog:innen bisher noch wenig Berührungspunkte mit Endometriose hatten, und die Diagnosefindung zum schleppenden Prozess über viele Jahre hinweg werden kann. Und je länger der Schmerz unbehandelt bleibt, desto wahrscheinlicher die Chronifizierung.
Van Stein glaubt, dass viele Menschen sich nicht bewusst sind, dass ein Schmerz auch chronifiziert auftreten kann. „Ich mache keine Psychotherapie, weil die Schmerzen doch wirklich da sind!“ sei ein typischer Satz von Betroffenen. Sie spricht von einer „Gratwanderung“, denn der Schmerz ist wirklich körperlich spürbar, kann durch Psychotherapie aber deutlich reduziert werden. Patient:innen fühlten sich durch den Vorschlag einer Psychotherapie möglicherweise aber falsch verstanden, als sei der Schmerz nur eingebildet. Die Neuropsychologin problematisiert auch die gesellschaftliche Tabuisierung, vor allem auf Seiten des Fachpersonals. Eine negative Erfahrung mit der:dem Gynäkolog:in fördert auf keinen Fall den Genesungsprozess. „Durch Frustration kann das Vertrauen in das medizinische System verloren gehen.“
Ein weiteres Problem sei, dass „durch Stigmatisierung und Nichtübernahme der Kosten eine Psychotherapie zu wenig in Anspruch genommen wird.“ Krankenkassen übernehmen die aufkommenden Kosten aufgrund einer
Endometriose nur selten. Erst wenn man von Depressionen als Folgeproblem spricht, reagieren Krankenkassen. Sexualtherapie wird nur in Ausnahmefällen von den Krankenkassen übernommen.
Van Stein kritisiert das, denn Sexualität sei „ein integraler Bestandteil der mentalen Gesundheit“. Zwar gingen mittlerweile Influencer:innen wie Anna Wilken im Netz offen mit Endometriose um, dennoch sei das Internet „ein zweischneidiges Schwert“. Es gäbe großartige und informative Seiten, aber auch das Gegenteil könne der Fall sein.
Ein weiteres Problem sieht van Stein im Mangel an Diversität im Spektrum der Behandlung. „Auch Menschen, die sich nicht als Frau identifizieren, müssen meist in eine „Frauenklinik“. Diese Menschen werden im System nicht genug gesehen!“ Im Fokus ihrer Forschung stehen auch Paare, denn „für eine Beziehung kann Endometriose eine enorme Belastung sein.“ Dies äußere sich in allen Lebensbereichen, aber auch beim Sex: Vor allem Schmerzen bei Penetration, doch auch Berührungen könnten schon schmerzhaft sein. Auch hier sei es wichtig, zu kommunizieren: „Man muss das Tabu verlieren, darüber zu sprechen.“ Van Stein rät dazu, das Thema mit dem:der Partner:in anzusprechen, Neues auszuprobieren, die Position zu wechseln und den Zyklus zu beobachten. Außerdem würde es helfen, wenn es allgemein mehr Informationen zum Thema gäbe.
Ihr Forschungsprojekt besteht aus zwei Studienteilen. Zum einen werden Menschen mit chronischen Unterleibsschmerzen mit einer gesunden Kontrollgruppe im MRT verglichen. Dabei beobachten die Forscher:innen das Gehirn und untersuchen, inwiefern es chronische Schmerzen unterschiedlich verarbeitet. Außerdem werden soziale Belastungsfaktoren mit einbezogen, die Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung haben können. Die erhobenen Speichelproben werden dabei auf Stresshormone untersucht.
Für die Studie werden immer wieder Freiwillige gesucht, die gegen eine Entlohnung teilnehmen wollen. Hierfür gelten besondere Ausschlusskriterien. Daneben forscht van Stein mittels einer sogenannten Alltagserhebung. Sieben Mal am Tag tragen Teilnehmende über eine Smartphone-App den aktuellen Zustand ein, gerade auch, was Schmerzen angeht. Auch hier werden Speichelproben genommen. Dies besteht auch wahlweise als Partnerprojekt, bei dem man nicht nur sich, sondern auch die Wahrnehmung des Partners oder der Partnerin beschreibt. In dieser Studie werden soziale Einflüsse untersucht, die Auswirkungen auf das Schmerzempfinden haben können. Eine andere Studie hat in diesem Zusammenhang bereits ergeben, dass soziale Unterstützung die Schmerzen lindern kann. Wenn der Partner allerdings überbesorgt ist, kann sich das auch negativ auf das Schmerzempfinden auswirken.
Van Stein wird ihre Studien voraussichtlich noch bis Januar nächsten Jahres durchführen. An alle Betroffenen mit ständig wiederkehrenden Unterleibsschmerzen, appelliert die Wissenschaftlerin: „Es lässt sich neurologisch ein Schmerz nachweisen. Glaub dir selbst und deinem Gefühl! Nimm deine Schmerzen ernst und lass dich nicht unterkriegen.“
Im Endometriosezentrum der Universitätsfrauenklinik in Heidelberg unter Leitung von Ariane Germeyer wird Endometriose ganzheitlich behandelt. Für die psychologischen Endometriose-Sprechstunden an der Heidelberger Uniklinik ist Tewes Wischmann verantwortlich. Durch seine lange Erfahrung hilft er Betroffenen, ihren Alltag zurückzuerobern.
Für alle Betroffenen und für diejenigen, die noch vor einer Diagnose stehen, gibt es Hilfe bei der Endometriose-Vereinigung Deutschland. Sie hilft unter Anderem dabei, Ärzt:innen in der eigenen Stadt zu finden. Die Endo-Studie findet man auf Instagram und Twitter.
Korrektur, 23. Januar 2023: Nach einer Rückmeldung von Katharina van Stein haben wir die Darstellung von Endometriose im zweiten Absatz der Online-Version des Artikels geändert.