Lieber Dr. Ruprecht,
mein Bett hat immer das letzte Wort. Ich will eigentlich raus und mich mit netten Leuten treffen oder zu einem lohnenswerten Konzert, aber mein Bett ist einfach wärmer, kuscheliger und verlässlicher. Was spricht überhaupt dafür, ihm zu widerstehen?
Sonja, 25, irgendeine Geisteswissenschaft
Liebe Sonja,
die meisten Säugetiere halten Winterschlaf, sie kuscheln sich in den kalten Monaten in warme Höhlen und wachen ab und zu für einen Snack auf. Der Mensch hat sich von dieser lieb gewonnenen Tradition losgesagt. Entgegen des natürlichen Instinktes müssen wir selbst bei Schneesturm hinaus in die Kälte, um in die Uni zu gehen oder Freunde zu treffen.
Warum willst du überhaupt dem Bett widerstehen? Ist es vielleicht FOMO – Fear of missing out? Die Illusion, angefeuert durch soziale Medien, das Leben der anderen sei viel aufregender, die Partys besser und die Freunde cooler? Wir wollen mithalten, selbst wenn es uns vielleicht gar nicht so viel Spaß macht. Oder fühlst du dich schlecht, wenn du nichts für die Uni tust, weil dein Selbstwert von deiner Leistung abhängt? In einer Welt, in der Produktivität den Wert eines Menschen bestimmt, ist Prokrastination Rebellion!
Große Männer und Frauen haben es vorgemacht. Mark Twain, Frida Kahlo und Salvador Dalí schufen ihre Werke in Betten. Yoko Ono und John Lennon veranstalteten 1969 das „Bed In“ aus Protest gegen den Krieg in Vietnam. Nach ihrer Hochzeit blieben sie zwei Wochen lang im Bett, gaben Interviews und schrieben den Song „Give Peace a Chance“ – im Pyjama.
Wer im Bett liegt, der zettelt keine Kriege an und verschmutzt nicht die Umwelt, der schafft keine Profite für Kapitalistenschweine und steckt niemanden mit Corona an. Schlafende sind immun für Propaganda.
Für etwas Gesellschaft kannst du ja Freunde zu dir ins Bett einladen! Vielleicht bringt deine Mitbewohnerin ja ihre Gitarre mit und schon ist es ein Konzert. Lasst euch Leckeres von diesem neuen Italiener, den ihr schon lange mal ausprobieren wolltet, einfach ins Bett liefern und schon ist es ein Restaurantbesuch. Für ein Kinoerlebnis könnt ihr euch ja noch einen schönen Film anschauen, vielleicht „Sleep“ von Andy Warhol? Und jetzt Psscht! Gute Nacht…
Herzlich,
Dr. Ruprecht