32,45 Kilogramm Zucker konsumierte 2021 jede:r Deutsche im Durchschnitt. Das ist dreimal mehr Zucker als der empfohlene Grenzwert der WHO. Könnte eine Steuer auf zuckerhaltige Lebensmittel Abhilfe schaffen?
Pro: Erhard Siegel
(Chefarzt für Gastroenterologie, Diabetologie und Ernährungsmedizin am St. Josefskrankenhaus)
Contra: Larissa Kamp
(Geschäftsführerin des Verbandes baden-württembergischer Zuckerrübenbauer e.V.)
In Deutschland sind 16 Millionen Menschen krankhaft adipös. Adipositas löst wiederum über 60 Begleit- und Folgeerkrankungen aus, zum Beispiel Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen oder Depressionen. Adipositas entsteht durch ein komplexes Wechselspiel zwischen adipogenen Lebens- und Umweltbedingungen sowie der genetischen Veranlagung. Darüber hinaus bewirkt die Pathophysiologie der Adipositas, dass der Körper ein einmal erreichtes Körpergewicht immer wieder anstrebt und erklärt den ernstzunehmenden Charakter der Adipositas.1950 hatten wir kaum adipöse Menschen. Seitdem haben sich bei gleicher Genetik unsere Arbeits- und Lebensbedingungen erheblich verändert: Zucker- und fettreiche Nahrung, Fastfood und Snacks bieten wir an jeder Ecke an. Unsere Umwelt ist darauf ausgerichtet, Bewegung und körperliche Anstrengung zu vermeiden. Deutschland ist eines der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch von Zuckergetränken.
Protokoll Lena Hilf
Die Annahme, dass der Zuckerkonsum bei 32 Kilogramm liegt, ist falsch. Laut Ernährungsbericht 2012 beträgt die Aufnahme von Mono- und Disacchariden bei Männern insgesamt 19,3 Prozent und bei Frauen 24 Prozent der täglichen Gesamtenergiezufuhr. Betrachtet man nur die Saccharose, also den Haushaltszucker, so beträgt die Aufnahmemenge bei Männern 9,7 Prozent und bei Frauen 11,6 Prozent der täglichen Energiezufuhr. Die Daten basieren auf der repräsentativen Nationalen Verzehrstudie II, die vom Max Rubner-Institut, dem Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft durchgeführt wurde. Seit dem Jahr 2021 ist keine weitere Verzehrstudie veröffentlicht worden.
These 1: Raffinierter Zucker enthält kaum wertvolle Nährstoffe und steigert das Risiko für viele Erkrankungen. Eine Zuckersteuer würde die Gesundheit der Bevölkerung verbessern.
Siegel: Um Adipositas und Übergewicht in der Bevölkerung zu reduzieren, gibt es zwei Ansätze: die Verhaltensprävention, also die Aufklärung und Motivation, und die Verhältnisprävention, also das Verändern der Umwelt. Drei Viertel aller Lebensmittel auf dem deutschen Markt enthalten Zucker, versteckt hinter fünfzig verschiedenen Bezeichnungen. Ein Normalbürger kann da keine informierte Entscheidung treffen. Es kann nicht Geschäftsmodell der Lebensmittelindustrie sein, Produkte zu vermarkten, die übergewichtig und krank machen. Damit sich dies ändert, muss die Gesellschaft Rahmenbedingungen für die Lebensmittelindustrie schaffen. Wir brauchen neben verhaltenspräventiven Maßnahmen vor allem verhältnispräventive Maßnahmen, wie eine Verteuerung von zuckerhaltigen Lebensmitteln. Freiwillige Vereinbarungen mit der Industrie haben kaum Wirkung gezeigt, also muss der Staat eingreifen.
Kamp: Übergewicht ist ein zentraler Risikofaktor für viele Zivilisationserkrankungen und damit eine Herausforderung für die Gesellschaft. Das steht außer Frage. Deshalb brauchen wir wirksame Lösungen gegen Übergewicht. Eine Zuckersteuer gehört nicht dazu. Die Fokussierung auf einen einzelnen Nährstoff hilft nicht gegen Übergewicht. Dabei kann nur der Blick auf die Kalorienbilanz helfen. Die Formel ist einfach: Wer mehr isst, als er verbraucht, nimmt zu. Woher die Kalorien kommen, ist egal. Das ist wissenschaftlicher Konsens. Deshalb ist es wichtig, die Gesamtkalorien in Lebensmitteln zu senken.
These 2: Angesichts steigender Lebensmittelpreise würde eine Zuckersteuer einkommensschwache Haushalte zusätzlich belasten.
Siegel: Ich befürworte keine reine Zuckersteuer, sondern eine gesundheitspolitisch motivierte Lenkungssteuer: Auf ungesunde Nahrungsmittel könnte man die Mehrwertsteuer deutlich erhöhen und im Gegenzug die Mehrwertsteuer auf gesunde Lebensmittel wie Gemüse, Obst etc. deutlich senken. Somit werden Haushalte für Grundnahrungsmittel sogar entlastet. Die Einführung der Alkopopsteuer im Jahr 2004 hat gezeigt, dass Steuern den Konsum lenken können. Auch bei Softdrinksteuern in anderen Ländern beobachten wir, dass der Konsum dieser Getränke sinkt. Außerdem können wir durch eine solche Steuer die Industrie dazu bewegen, den Zuckergehalt in ihren Rezepturen zu reduzieren.
Kamp: Eine zusätzliche Besteuerung auf Lebensmittel jeglicher Art belastet einkommensschwache Haushalte. Allerdings sollte hier unterschieden werden, inwiefern mengenmäßig entsprechende Steuern relevant würden, da der Anteil an einer möglichen Zuckersteuer verschwindend gering wäre.Der Fokus auf den Nährstoff Zucker führt häufig dazu, dass Produkte weniger Zucker haben, aber nicht weniger Kalorien. Man ersetzt Zucker einfach durch andere Nährstoffe, die teilweise sogar mehr Kalorien haben. Das ist kontraproduktiv. Verbraucher gehen davon aus, dass sie von zuckerreduzierten Produkten mehr essen können oder dadurch abnehmen.
These 3: Besonders das Kaufverhalten von Kindern könnte durch gestiegene Preise für Süßigkeiten und Limonaden positiv beeinflusst werden.
Siegel: Grundlegende Verhaltensmuster werden in der frühen Kindheit und Jugend geprägt. Sie nachher ändern zu wollen, ist extrem schwierig, wenn nicht aussichtslos. 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind bereits übergewichtig. Wichtig ist mir vor allem, dass wir freien Zucker in Lebensmitteln für Kinder reduzieren. In Softdrinks, Müslis, Fruchtjoghurts etc. ist viel versteckter Zucker. Damit werden Kinder frühzeitig auf Süßes konditioniert. 90 Prozent des Marketings für Kinderlebensmittel bewirbt unausgewogene Produkte. Diese äußeren Faktoren führen dazu, dass sogar über Ernährung aufgeklärte Kinder Schwierigkeiten haben, differenzierte Entscheidungen zu treffen. Daher sollte neben gesundheitsfördernden Lebensmittelpreisen (Verteuerung von adipogenen und Verbilligung von gesunden Lebensmitteln) zusätzlich über ein Werbeverbot für kaloriendichte Lebensmittel nachgedacht werden. Außerdem braucht es verbindliche Qualitätsstandards für Kita- und Schulverpflegung.
Kamp: Es gibt derzeit keine ausreichenden wissenschaftlichen Belege dafür, dass eine Zuckersteuer das Auftreten von Adipositas und Übergewicht verringert. Ja, Steuern können einen Einfluss auf das Konsumverhalten haben und eine Strafsteuer hat in Einzelfällen dazu geführt, dass der Zuckerkonsum aus Softdrinks zurück gegangen ist. Aber die Zahlen zeigen auch, dass das Übergewicht trotz sinkendem Zuckerkonsum nicht zurückgeht. Eine Zuckersteuer suggeriert fälschlich, dass eine einzelne Zutat schuld an der Entstehung von Übergewicht sei. Dieser Ansatz führt nicht zum Erfolg. Alle Lebensmittel haben ihren Platz in einer ausgewogenen Ernährung.
Thesen von Lena Hilf
Campusumfrage
Wir haben Studierende gefragt: „Findet ihr die Besteuerung zuckerhaltiger Produkte sinnvoll?„
„Das ist eine gute Policy für Firmen, aber es muss an sozialen Ausgleich gesacht werden, zum Beispiel durch Subventionen vollwertiger Produkte oder Steuererlasse.“
Lina, 23, Politikwissenschaften
„An sich ist es jedem freigestellt, wie viel Zucker er konsumieren möchte. Diabetes und Adipositas sind jedoch ein großes Problem. Ich bin aber nicht sicher, ob ein finanzieller Ansatz der richtige Weg ist“
Marie, 20, Medizin
„Ich halte nicht viel von Erziehungssteuern. Der Verbraucher kann selbst entscheiden. Außer der Belastung von Verbrauchern steckt nicht viel dahinter.“
Jakob, 21, Jura
„Ich bin gegen eine Zuckersteuer. Ich glaube nicht, dass Zucker an sich schlecht ist, wenn man es nur mit Bedacht konsumiert. Jeder soll selbst entscheiden dürfen, wie er sich ernährt.“
Irem, 23, Molekulare Biotechnologie
Umfrage von Carla Scheiff
...studiert Physik und schreibt seit Oktober 2019 für den ruprecht. Besonders gerne widmet sie sich Glossen, die oft das alltägliche Leben sowie wissenschaftlichen oder politischen Themen. Seit April 2021 leitet sie das Ressort Hochschule.
Carla Scheiff interessiert sich für Kultur und Politik und studiert deshalb Germanistik im Kulturvergleich und Politikwissenschaften. Seit 2021 schreibt sie für den ruprecht und leitet Seite 1-3. Am liebsten widmet sie sich gesellschaftspolitischen Themen und Fragen, die unsere Generation bewegt.