Gendern verbieten der Freiheit wegen? In Zeiten von Queerfeindlichkeit und Misogynie sei das geplante Volksbegehren mit seiner populistischen Stumpfheit geistige Brandstiftung, findet unser Autor. Es drohe eine gefährliche neue Eskalationsstufe im Kulturkampf
„Liebe Bürgerinnen und Bürger.“ Bereits vier Worte bringen das intellektuelle Kartenhaus der Gendergegner:innen zu Fall. Das gelobte, weil angeblich diskriminierungsfreie generische Maskulinum? Weicht der verhassten Beidnennung. Gendern scheint also doch nicht so schlimm zu sein. Worum es den Initiierenden eigentlich geht, verrät das siebte Wort: Ärger.
Es mag kluge Argumente gegen das Gendern geben – in diesem inkohärenten Aufruf werden keine genannt. Stattdessen nur trotzige Rationalisierungen eines anti-woken Lebensgefühls. Mit seiner chauvinistischen Lobhudelei auf die deutsche Sprache und Kultur nähert er sich bedrohlich nahe dem rechten Rand. Dass solch ein Pamphlet ausgerechnet hier Anklang findet, ist eine Demütigung für den Geistesstandort Heidelberg und alle Beteiligten.
Darunter die Mehrheit der CDU-Fraktion mitsamt ihrer Vorsitzenden, Nicole Marmé. Die Professorin fördert Mädchen in den MINT-Fächern, auf Twitter nutzt sie vereinzelt das Gendersternchen. Was verbindet so jemanden mit Leuten wie Christof Sohn, der als Chefarzt Abtreibungen in der universitären Frauenklinik untersagte? Oder mit Alexander Mitsch, dessen AfD-nahe Werteunion für ein traditionelles Familienbild eintrat?
Es ist ihre Bereitschaft, Queerfeindlichkeit und Misogynie auf dem Nährboden der bürgerlichen Skepsis zu normalisieren. Wozu radikalisierter Konservatismus führen kann, sieht man in Polen und den USA: Abtreibungsverbote, LGBT-freie Zonen und das Verbot von geschlechtsangleichenden medizinischen Behandlungen – universell verstandene Menschenrechte werden zum Politikum. Dieser Aufruf ist in seiner geistigen Brandstiftung nicht weniger als ein direkter Angriff auf die Gleichberechtigung aller Geschlechter. Hinter der freiheitlich-anmutenden Sprachbesorgnis schlummert eine menschenverachtende Ideologie.
Ein Kommentar von Philipp Rajwa
Korrekturhinweis: In der Printversion dieses Artikels legte eine ungenaue Formulierung nahe, dass die gesamte CDU-Fraktion an diesem Aufruf beteiligt gewesen wäre. Tatsächlich befinden sich nur fünf der sieben Heidelberger CDU-Stadträt:innen unter den Erstunterzeichner:innen.
...hat in Heidelberg Informatik studiert und war zwischen 2020 und 2023 Teil der ruprecht-Redaktion. Ab dem WiSe 2021 leitete er das Feuilleton und wechselte im WiSe 2022 in die Leitung des Social-Media-Ressorts. Im Oktober 2022 wurde er zudem erster Vorsitzender des ruprecht e.V. und hielt dieses Amt bis November 2023.