Die Instapoetin Rupi Kaur ist die bis dato weltweit erfolgreichste Lyrikerin. Verdient ihre wortkarge Kachellyrik ein Like?
Blut, Worte über Schöpfung und eine Megaschar an Jünger:innen – das Wort Kult, von lateinisch cultus deorum (Götterverehrung), erscheint passend für das Werk der indischstämmigen Kanadierin Rupi Kaur. 2015 ist sie auf Instagram auferstanden: „i bleed every month to make humankind a possibility. my womb is home to the devine. a source of life for our species. whether i choose to create or not. in older civilizations this blood was considered holy […].“
Kaur predigte in diesem Post gegen die Tabuisierung der Menstruation; begleitet von einem Selbstporträt mit Blut auf Hose und Bettlaken. Zweimal hatte die Plattform den Beitrag entfernt. Er verstieß scheinbar gegen die Gemeinschaftsgebote. Nach einem Shitstorm wurde ihr Sermon reaktiviert und die Märtyrerin weltberühmt. Der ‚blutige‘ Instagramskandal beseelte Kaurs Lyrik und die Kultstätte wurde zum Geburtsort sogenannter Instapoet:innen.
Genau acht Jahre später ist Kaur ein Popstar der Literatur. Neben ihren Büchern zählt sie 4,5 Millionen Follower:innen auf Instagram, ein Amazon Comedy Special und Welttourneen. Ihr 2014 im Selbstverlag veröffentlichtes Debüt milk and honey blieb drei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times, wurde in über 42 Sprachen übersetzt und löste Homers Odyssee als erfolgreichstes Werk in Versform ab. Hermetische, akademisch-abendländische Dichtung findet man bei Kaur aber nicht. Ihre Gedichte sind Komposita aus Kleinbuchstaben in ‚Leichter Sprache‘ und Kritzeleien im One-Line-Stil.
Längst vorbei sind die Zeiten, in denen Literatur bedeutete, dass hieroglyphische Hinweise von elitären Minoritäten zu entziffern waren! Heute ist man der Sherlock Holmes der Literaturwissenschaft, wenn man das Oxymoron in „i have never known anything more | quietly loud than anxiety“ findet.
Schon auf den ersten Seiten ihrer Gedichtbände findet man kalenderspruchreife Plattitüden à la „you are lonely | but you are not alone | – there is a difference.“ Immer wieder stellt sich die Frage: Ist das Kunst oder kann das weg? Das Problem moderner Kunst ist, dass sie oft nur als solche erkennbar ist, weil sie in einer bestimmten Umgebung oder Anordnung präsentiert wird. Während Unkundige gleich zwei Kunstwerke von Joseph Beuys versehentlich als Müll verkannten und zerstörten, verehren die Massen Kaurs in Verse umbrochene Zeilen.
Die Gatekeeper der Literaturwissenschaft sehen es anders: Für die marxistische Literaturtheorie ist Kaur der kapitalistische Spiegel der Gesellschaft; für den Literaturwissenschaftler Moritz Baßler ist sie das Paradebeispiel für den populären Realismus im ‚Neuen Midcult‘: Literatur, bei der unser Gehirn Urlaub machen kann.
Während soziale Medien die Dolce Vita-Momente des Lebens zeigen, erzählen Kaurs Kleinbuchstaben von sexueller Gewalt, Selbstliebe und Herkunft. In ihrer Lyrik inszeniert sie sich als Leidende und Heilende zugleich. Sie ist der feministische Jesus des Instagramkults: Gelitten unter dem Patriarchat, zensiert, hinabgestiegen in das Reich der Depression, auferstanden – und so weiter. Oder in Kaurs Worten: „i’ve been hunted. killed. and walked back to earth.“
Mit Kaurs Gedichtbänden halten wir nicht das Hohelied der Gegenwart in unseren Händen. Aber wir können nicht übersehen, dass Kaur mit minimalistischer Wortdichte ein maximales Massenpublikum anzusprechen vermag: Seit der Veröffentlichung von Kaurs Debüt ist in Amerika kein anderes literarisches Genre so rasant gewachsen wie die Lyrik.
Wenn sie im letzten Kapitel ihres dritten Buchs homebody schreibt „what a relief | to discover that | the aches i thought | were mine alone | are also felt by | so many others“, nennt sie das Phänomen ihres Erfolgs: Sie trifft den Nerv der Zeit. Was dies über uns aussagt, bleibt an dieser Stelle lieber unausgesprochen.
Von Daniela Rohleder
...studiert Editionswissenschaft & Textkritik im Master und ist im Herbst 2021 beim ruprecht eingestiegen. Zwischen Oktober 2022 und November 2023 leitete sie das Ressort „Studentisches Leben“. Auch thematisch widmet sie ihr Zeichenlimit gerne dem studentischen Blick auf die Umwelt – wobei sie einiges über Radiosender, Feierkultur und Elternschaft gelernt hat.