Die Mannheimer Indie-Band „Engin“ holt deutsch-türkische Popmusik aus ihrer Nische. Mit dem ruprecht spricht sie über ihren Sound, kulturelle Identität in der Musik und die Schärfe des perfekten Döners
Tanzbarer Indie, der live rockiger ist als auf Spotify: Engin Devekiran (Frontsänger und Gitarrist), David Knevels (Bass) und Jonas Stiegler (Schlagzeug) haben deutsch-türkische Popmusik zwar nicht erfunden, aber rücken sie mit ihrem eingängigen Mix aus Pop, Indie und Einflüssen aus psychedelischem und Anadolu-Rock ins Rampenlicht. Die Texte wechseln dabei mühelos von Deutsch zu Türkisch und wieder zurück. Im Mai erschien ihr Debütalbum „Nacht“. Anfang Juni geht die Newcomer-Band damit auf ihre erste Tour quer durch Deutschland. Nächstes Jahr wollen sie auch Konzerte in der Türkei spielen.
Wie habt ihr als Band zusammengefunden?
Engin: Jonas und ich kennen uns seit zwanzig Jahren. In der fünften Klasse haben wir uns kennengelernt und eigentlich schon von da an zusammen Musik gemacht. Jonas hat später Jazz-Schlagzeug an der Musikhochschule in Mannheim studiert und ich habe mich für ein Psychologie-Studium entschieden, da haben wir uns ein bisschen aus den Augen verloren. Nach meinem Master habe ich beschlossen, dass ich noch Musik studieren will und bin an die Popakademie gekommen. Da habe ich im zweiten Jahr David kennengelernt. Nach seinem Bachelor mit Bass im Hauptfach, hat er zu diesem Zeitpunkt schon Musikproduktion im Master studiert. Irgendwann habe ich ihm gesagt: „Hey, ich hab’ da dieses Deutsch-Türkische Ding und würde gern was draus machen. Wollen wir zusammen an einer EP arbeiten?“ In Davids Wohnzimmer haben wir dann damit angefangen. Gemeinsam mit Jonas haben wir die Platte eingespielt und schnell gemerkt: „Hey, das ist eine gute Konstellation – mit viel Potential für gute Laune.“ Im Sommer 2021 haben wir dann beschlossen, dass wir jetzt eine Band sind.
Was würdet ihr machen, wenn ihr keine Musik machen würdet?
Engin: Wahrscheinlich wäre ich Psychologe.
David: Ich habe davor Biologie studiert, aber nur so halb-alibimäßig. Nachdem ich meinen Botanikschein bestanden hatte, wusste ich, dass ich mit sowas nicht mein Leben verbringen will. Der ursprüngliche Plan war, Medizin zu studieren, aber der Wunsch Musik zu machen hat sich mit der Zeit herauskristallisiert.
Jonas: Ich hatte mich zwei Jahre lang für Maschinenbau eingeschrieben, aber nach dem Abi angefangen Schlagzeug zu unterrichten, habe viel geübt und wurde dann an der Hochschule angenommen. Ich glaube, für die Musik habe ich mich schon früh entschieden.
Wie würdet ihr euren Sound in drei Worten beschreiben?
Jonas: Wackelig, schief, laut.
Engin: Deutsch, Türkisch, Indie. Ich denke, das ist der Inhalt unserer Musik, wenn man es herunterbricht.
Inwiefern bietet euch Musik einen Zugang, sich mit kultureller Identität auseinanderzusetzen?
Engin: Voll! Ich habe mich jahrelang nicht so sehr mit meinen türkischen Wurzeln beschäftigt und wurde eigentlich auch nie groß darauf angesprochen. Aber ich würde schon sagen, dass die Musik einen riesigen Anteil daran hat, dass ich meine kulturelle Identität für mich klargekriegt habe. Man wächst ja irgendwie immer mit den Kulturen der Eltern auf und da gab es häufig Sachen, bei denen ich mir dachte: „Okay, mein Vater ist eben aus einer anderen Generation. Damit kann ich mich jetzt nicht wirklich identifizieren.“ Musik hat mir die Chance gegeben, mir meine eigene Kultur zusammenzubasteln – aus den Teilen, die ich aus der deutschen und der türkischen Kultur jeweils gut fand. Und wenn man dort Gemeinsamkeiten sucht, findet man sie auch und es ist eigentlich gar kein großer Konflikt mehr.
Was für Gemeinsamkeiten sind das?
Engin: Die deutsch-türkische Popmusik-Geschichte, zum Beispiel. Schon in den Siebzigern haben Arbeitsmigranten aus der Türkei ihre Musik mitgebracht. Da gab es schon viele deutsch-türkische Crossover und es gibt auf jeden Fall eine kleine deutsch-türkische Popmusiktradition. Es ist nichts Exotisches oder Neues, was wir machen, sondern es baut auf etwas auf, das schon lange da ist – wenn auch in einer Nische.
Jonas: Die Musikkultur der Gastarbeiter wurde nur leider wenig wertgeschätzt und so schlecht in die deutsche Gesellschaft und Kultur integriert wie die Menschen – wenn nicht sogar noch ein bisschen schlechter.
Engin: Teils, teils. Dönerbuden gibt es überall, aber die Musik gilt immer noch als exotisch. Das ist schon etwas merkwürdig.
Es gibt sehr wenig deutsch-türkischen Indie, sondern eher Hip-Hop und Rap. Wie sind die Reaktionen auf euren Sound bisher?
Engin: Es kommt immer darauf an, auf wen man trifft. Allgemein ist unser Sound recht poppig und eingängig. Wir tauchen nicht tief in eine orientalische Musiktheorie ein. Menschen, die sich mit Anadolu-Rock und türkischer Rockmusik der 60er bis 90er Jahre auskennen, hören ganz klar die Referenzen heraus und finden das wahrscheinlich gut. Und einige Menschen sagen vielleicht: „Hey, das ist erfrischend, hab‘ ich so noch nicht gehört!“
Was ist gerade eure größte Herausforderung als Newcomer-Band im Durchbruch?
Engin: Aufmerksamkeit. Es kommen ständig neue Sachen auf den Markt und da aufzufallen und nicht unterzugehen ist auf jeden Fall eine Herausforderung.
Jonas: Auch die Chance zu bekommen, dass Leute sich kurz Zeit nehmen und die Energie aufwenden, nicht ihren Gewohnheiten nachzugehen, sondern zu sagen: „Das kenn ich so noch nicht. Ich geh‘ mal hin und erleb’s.“
Auf TikTok und Instagram führt ihr die Reihe „Türkische Songs, die ihr kennen solltet“: Gibt es konkrete Künstler:innen aus der türkischen Musikszene, die euch inspirieren?
Engin: Von früher sind auf jeden Fall Erkin Koray, Cem Karaca und Barış Manço wichtig. Aber auch wahnsinnig tolle Musikerinnen wie Ajda Pekkan und Selda Bağcan. Das sind so die Pionier:innen der 60er Jahre Popmusik aus der Türkei. Und heute sind es Musiker:innen wie Gaye Su Akyol, die auch ein bisschen Retro-Spirit in ihrer Musik haben und eine Inspiration für uns waren zu erforschen, wo sie ihre Wurzeln herziehen. Auch ganz alte, traditionelle türkische Musik wie von Âşık Veysel bietet einen große Quelle an Inspiration, aber ich denke, wir konzentrieren uns hauptsächlich auf die 60er und 70er Jahre.
Gibt es auch deutsche Künstler:innen, die euch inspirieren?
Engin: Ich finde die Texte von Element of crime richtig gut. Aber so viel deutsche Musik höre ich ehrlich gesagt gar nicht.
Jonas: Für mich ist der zeitliche Aspekt interessanter: Man muss auch von dem inspiriert sein, was war. Wenn wir heute Popkultur schaffen, ist es eine Kombination aus dem Jetzt und der Tradition. Und am besten hat man beim Schaffen von Musik dann schon ein Gefühl dafür, was sich davon gut und was sich schlecht anfühlt. Ich höre also lieber 50 Jahre und mehr in die Vergangenheit, als auf die Leute um mich herum zu schauen.
Im Juni 2023 seid ihr auf eurer ersten Tour: Auf was freut ihr euch am meisten?
Engin: Es ist auf jeden Fall ein Privileg, eine Tour spielen zu dürfen – und dass auch Leute kommen, die einen sehen wollen.
Jonas: Genau, dadurch kann die Tour überhaupt erst stattfinden. Und es ist krass, dass wir die Chance bekommen, live an unserer Musik arbeiten zu dürfen.
David: Das Schöne ist, dass wir an jedem Abend, bei jedem Tourstop, die Chance haben, auf unsere Art und Weise ein unbeschriebenes Blatt zu färben.
… und wovor habt ihr ein bisschen Angst?
Engin: Vor Jonas!
Jonas: Ich glaube vor den Haustechnikern.
Engin: Für den Kontext: Wir haben keinen eigenen Tontechniker, der bestimmt, wie wir nach außen klingen. Und da liegt dann unheimlich viel Gestaltungspotential bei einer Person, die wir nicht kennen und die unsere Musik noch nie gehört hat.
Auf welchem Festival oder in welcher Location würdet ihr gerne mal spielen?
Engin: Auf einem Festival in Istanbul zu spielen, wäre schon ein Traum.
Jonas: Genau, irgendwo an der Küste und im Hintergrund geht die Sonne unter.
David: Wir spielen dieses Jahr schon auf einem Traum-Festival von mir, und zwar auf der Lott. Ich komme da aus der Nähe und war dort schon als kleiner Bub.
Gab es eine Reaktion zu eurem Album, die euch besonders im Gedächtnis geblieben ist?
David: Der Musikexpress hat geschrieben, dass wir eine neue und wichtige Perspektive für den deutschen Indie darstellen. Das war schon ein kleiner Ritterschlag.
Subjektiver Eindruck: Glaubt ihr, dass eure Fanbase bisher einen eher größeren deutschen oder türkischen Anteil hat?
Engin: Komplett gemischt, und das ist richtig schön.
Jonas: Auch demografisch.
Engin: Genau, auch vom Alter her. Und dann ist da zum Beispiel die deutsch-türkische Community, da sind Austauschstudierende aus der Türkei, die mit unseren Texten versuchen, Deutsch zu lernen und einmal ist ein älteres deutsches Paar extra von Köln nach Karlsruhe zu unserem Konzert gefahren, weil sie einen Beitrag über uns im Fernsehen gesehen haben.
Musikvideo drehen: Eher Spaß oder eher Stress?
Engin: Beides.
Jonas: Ich glaube, es kann spaßig sein. Aber wir haben halt in fünf Tagen zehn Musikvideos gedreht und das war sau stressig.
David: Auf jeden Fall beides, aber für mich sind Musikvideos das Stressigste im ganzen Musikbereich. Gerade am Anfang dreht man mit wenig Budget und Ausstattung eben so lange, bis das Video fertig ist. Wenn das um 18.00 Uhr ist, ist das schön, aber wenn es morgens um halb sieben ist, ist es eben morgens um halb sieben.
… und woher kommen die Ideen für eure Musikvideos?
Engin: Das haben wir uns gemeinsam ausgedacht. Das Konzept unseres Albums „Nacht“ ist, dass jeder Song eine Episode vom späten Nachmittag bis zum nächsten Tag abbildet. Und es hat sich angeboten, einen Teil aus dem jeweiligen Song herauszugreifen und darzustellen. Aber Musikvideos scheinen ihre Relevanz im Zeitalter von TikTok verloren zu haben.
Stand das Konzept schon vor den Songs für die Platte?
Engin: Nein, es hat sich eher mitentwickelt. Bei manchen Songs ist dieser verbindende Zusammenhang automatisch passiert und mit ein paar anderen Songs hat man die Lücken noch gefüllt. So nach dem Sinn: Okay, um die Uhrzeit brauchen noch diesen Vibe, hier brauchen wir noch etwas Wildes, da was Eskalatives, was Ausgelassenes, noch etwas für den Anfang des Abends. Wir haben die Texte aber nicht extra mit dem Konzept als Ziel geschrieben, sondern sie mit autobiografischen Inhalten gefüllt und dann hat sich diese Verbindung herausgestellt.
Waren autobiografische Aspekte die Hauptinspiration für eure Songs?
Engin: Die Songs sind beschreibend, in dem Fall aus meiner Perspektive. Es geht nicht nur um Sachen, die einem passieren, sondern darum, was man in der Nacht draußen sieht. Und das sind ziemlich viele Sachen: lustige, traurige, skurrile oder eklige. Die Nacht hat schon etwas Offenbarendes, das ist so spannend an ihr.
Wie hat der Besitzer von Kiosk Yüksel im Mannheimer Jungbusch reagiert als er euren Song über seinen Kiosk das erste Mal gehört hat?
Engin: Er war tief gerührt von der Geste, auch wenn er von seiner Mimik her nicht der größte Emotionsbolzen ist.
Jonas: Er hat gesagt: „Cool. Ist nicht meine Musik, aber cool.“
Das Wichtigste zum Schluss: Wie scharf muss der perfekte Döner sein?
Engin: Bei mir muss es brennen, aber richtig. Da müssen Chiliflocken und Peperoni rein.
Jonas: Nicht ganz so scharf wie bei Engin, aber schärfer als früher. Ich hab‘ verstanden, dass es cool ist, scharf zu essen.
David: Ich finde die Frage schwierig, Schärfe ist bei mir tagesformabhängig. An manchen Tagen habe ich keinen Bock, mich diesem körperlichen Stress auszusetzen, aber es gibt auch Tage, da weiß ich einfach: „Ja, jetzt geht’s richtig los.“
Das Gespräch führte Mona Gnan
...studiert Germanistik im Kulturvergleich und Geschichte. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Mona berichtet gerne über Kultur, die Welt und alle möglichen Diskurse. Eigentlich über alles, was die Gesellschaft gerade bewegt - oder bewegen sollte.