Eine studentische Vergewerkschaftungswelle überrollt die USA: Immer mehr Hiwis organisieren sich und arbeiten nach eigenem Tarifvertrag. In Deutschland gibt es Vergleichbares nur in Berlin
Seit 2016 nimmt die gewerkschaftliche Organisation studentischer Beschäftigter an privaten Universitäten in den USA erheblich zu. Möglich macht das eine Entscheidung des National Labor Relations Board (NLRB), der zuständigen Bundesbehörde für Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen.
Gerade in den letzten Monaten hat die Mobilisierung weiter an Fahrt aufgenommen. Im November und Dezember 2022 beteiligten sich beinahe 50.000 Angestellte der University of California am größten Streik in der Geschichte des amerikanischen Hochschulwesens. Dass studentische Arbeitskräfte landesweit für Gewerkschaftsgründungen stimmen, in den Streik treten und Tarifverträge unterzeichnen, ist in den Vereinigten Staaten historisch gesehen beispiellos.
Dabei hat die studentische Vergewerkschaftung in den USA durchaus eine längere Vorgeschichte. Die Entwicklungen unterscheiden sich jedoch zwischen öffentlichen und privaten Hochschulen. An öffentlichen Universitäten unterliegen mögliche Tarifverhandlungen dem Recht der 50 Einzelstaaten. In Staaten, in denen die gewerkschaftliche Organisation an Universitäten erlaubt ist, hat diese eine teils mehr als 50-jährige Tradition.
Für die vielen privaten Universitäten entscheidet dagegen das NLRB darüber, ob studentische Beschäftigte wie Student:innen oder Arbeitnehmer:innen behandelt werden – in Tarifverhandlungen könnten sie nur im letzteren Fall einsteigen. Zu klären ist letztlich, ob eine studentische Beschäftigung als Teil der Ausbildung oder als reguläres Arbeitsverhältnis gelten soll.
Im Laufe seiner Geschichte hat das NLRB seine Position in dieser Frage wiederholt geändert. Das liegt auch daran, dass die fünf Mitglieder seines Vorstands mit Zustimmung des Senats vom amerikanischen Präsidenten ernannt werden. So hat das NLRB oft gewerkschaftsfreundlicher entschieden, wenn die Demokratische Partei an der Macht war, und arbeitnehmerfreundlicher, wenn ein republikanischer Präsident die leitenden Mitglieder der Behörde berief.
2019 schlug das NLRB während der Amtszeit Donald Trumps vor, studentische Beschäftigte entgegen der Entscheidung von 2016 wieder als Student:innen statt als Arbeitnehmer:innen zu definieren. Nach der Wahl Joe Bidens zum Präsidenten und unter dem zunehmenden Druck studentischer Kampagnen legte die Behörde diese Überlegung 2021 jedoch wieder auf Eis. Neu sind gegenwärtig vor allem die gewerkschaftlichen Erfolge an privaten Universitäten. Anfang der 2000er Jahre hatte das NLRB kurzzeitig schon einmal Tarifverhandlungen erlaubt, doch gab es damals nur an der New York City University einen Vertragsabschluss.
Seit 2016 traten jedoch weitere hinzu, auch an einflussreichen Spitzenuniversitäten wie Harvard, Princeton oder Brown. Weitere studentische Gewerkschaften befinden sich noch im Streik oder in Verhandlungen. Die gegenwärtigen Entwicklungen sind nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil die USA auch über den Hochschulbetrieb hinaus kaum je für starke Arbeitnehmer:innenrechte oder ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein bekannt waren.
Der Anteil gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer:innen fällt seit Jahrzehnten. Betrug er bis in die 1960er Jahre immerhin noch über 30 Prozent, liegt er inzwischen nur noch bei etwa zehn, in der Privatwirtschaft sogar bei nur sechs Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland sind derzeit knapp 20 Prozent aller Arbeitnehmer:innen Mitglieder in Gewerkschaften. Doch der Langzeittrend weist hierzulande in die gleiche Richtung wie in den USA, waren es doch vor 1990 noch über 30 Prozent. Die neoliberale Tendenz zu mehr Prekarisierung und Privatisierung erweist sich auch hier als übernationales Phänomen.
Und auch vor den Universitäten macht sie nicht halt. Wie in den USA gibt es seit einigen Jahren auch in Deutschland ein gewisses Wiederaufleben studentischer Vergewerkschaftungsversuche. Jedoch haben die Hilfskräfte nur im Land Berlin einen eigenen Tarifvertrag, der erst 2018 nach längeren Streiks erneuert wurde. Die 2002 gegründete Initiative TVStud fordert mit Unterstützung von Verdi und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), solche Tarifverträge für studentische Beschäftigte bundesweit auszuhandeln.
Es bleibt abzuwarten, ob der gegenwärtige Erfolg der amerikanischen Gewerkschaftler:innen anhält – und ob ihre deutschen Pendants es ihnen über Berlin hinaus gleichtun können.
Von Linus Lanfermann-Baumann
...studiert Geschichte im Master und schreibt seit 2022 für den ruprecht. Er interessiert sich für Vergangenes und Gegenwärtiges im Kino, in der Literatur, in Heidelberg und in den USA.