Marode Infrastruktur, Hoffnung auf Stabilität: Warum junge Menschen in Griechenland nach den Ausschreitungen konservativ wählen – und trotzdem keine Zukunft für sich sehen
Die Finanzkrise ist ein Trauma, dass du nicht vergisst, wenn du es erlebt hast.“ So formuliert Massenmedienwissenschaftenstudent Stefanos* seine Wahrnehmung der prägenden Jahre für die griechischen Wähler:innen in einem Café im Athener Stadtteil Exarchia. Das Viertel scheint sinnbildlich für das Land zu stehen: Ehemals Zentrum einer linken Szene, werden Künstler:innen und Theater langsam durch Investor:innen verdrängt, um das Viertel für den Tourismus nutzbarer zu machen.
Auch Griechenland scheint nach dieser Wahl konservativer zu werden und auf Wachstum zu setzen. Griechenland wurde in diesem Frühjahr von zwei Skandalen erschüttert: Journalist:innen und Oppositionspolitiker:innen wurden vom Premierminister abgehört und zwei Züge kollidierten aufgrund mangelnder technischer Sicherheitsausstattung. Doch während kaum jemand darüber sprach, dass der Premierminister Mitsotakis sogar den Parteichef der Sozialdemokraten abhören ließ, führte das Zugunglück von Tempi zu gewaltsamen Ausschreitungen. „Schreib mir, wenn du zuhause bist“ – die Textnachricht einer Mutter an ihre bei dem Zugunglück verstorbene Tochter wurde zum Slogan der Protestierenden. Die breite Basis der Proteste in allen Gesellschaftsschichten war eine völlig neue Entwicklung, da bis dato bei Problemen nur die betroffenen Bevölkerungsgruppen auf die Straße gingen. Doch die Wut der älteren Generation auf die rigorosen Einsparungen im Sozialstaat und die marode Infrastruktur führt neben der Wut der Jugend, die sich als Generation ohne Zukunft sieht, erstmals zu einer sozialen Kohäsion.
Vor der Wahl im Mai waren Frauen und Jungwähler:innen unter 30 in ihrer Wahlentscheidung noch unentschieden, gerade Letztere waren voller Wut auf die Regierung. Doch dann der Schock: Bei den Wahlen am 21. Mai erhielt die konservative Regierungspartei Nea Demokratia (dt. neue Demokratie, ND) mit 40,7 Prozent der Stimmen ein phänomenales Ergebnis, sieben Prozentpunkte stärker als in den Vorwahlumfragen. Damit hatte selbst die ND nicht gerechnet. Vergleicht man den Unmut, der bei den Protesten kundgetan wurde, mit dem Wahlergebnis, das den Konservativen eine fast absolute Mehrheit bescherte, lässt sich eine Ambivalenz in der politischen Einstellung der Griech:innen erkennen. Doch das Ende der Proteste ist für griechische Verhältnisse nichts Ungewöhnliches: Sie stützen sich auf eine breite Basis in der Bevölkerung, doch vor der Wahl ebben sie häufig ab.
Unzufriedenheit mit der Politik wird in Griechenland oft durch Demonstrationen, Streiks und körperliche Auseinandersetzungen mit der Polizei geäußert. Doch im Gespräch mit griechischen Studierenden erfährt man, dass sich diese Proteste innerhalb von zwei Wochen meist im Sande verlaufen. Die Demonstrationen nach dem Zugunglück fallen durch ihr zweimonatiges Anhalten somit sogar aus der Reihe. Doch warum schaffte es die konservative ND trotzdem, die Wahlen mit einem Erdrutschsieg zu gewinnen? Zumal der Großteil der unentschiedenen Wahlberechtigten aus jungen Menschen bestand?
Das Ergebnis der Wahl zeugt von einem Wunsch nach Stabilität und einem Gefühl der Alternativlosigkeit. Die ehemals linksradikale Partei Syriza, größte Konkurrentin der ND, steht für Experimente und wirtschaftliche Unsicherheit. Die ND hingegen stellt seit Regierungsantritt einen Garanten für Stabilität dar – für die jungen Griech:innen allerdings erweist es sich eher als das kleinere Übel als ihre Wunschpartei. Es geht nicht darum, das beste Angebot zu machen, sondern darum, die am wenigsten unbeliebte Partei zu sein. So hoffen Jugendliche mit der ND zumindest auf eine bessere Zukunft durch wirtschaftliches Wachstum. Dass die ND regieren wird, ist vielen klar. Sie wird ihr Ergebnis bei der nächsten Wahl mindestens halten und durch ein neues Wahlrecht um die 50 Bonussitze im Parlament mit 300 Abgeordneten erreichen – eine Mehrheit, die sogar zur Verfassungsänderung taugt. Studierende werden wohl keinen Nutzen daraus ziehen – die ND fördert vor allem private Universitäten und schafft vorrangig Jobs im Niedriglohnsektor. Einige Studierende, die bei der letzten Wahl noch gewählt hatten, kündigten bereits an, bei der nächsten nicht mehr zu wählen.
Nur eines ist sicher: Immer mehr Jugendliche werden ihren Blick auf eine Zukunft außerhalb des Landes richten, für Bildung oder Zukunftsperspektiven – und Exarchia wird leerer werden, bis nur noch Tourist:innen durch die Straßen wandern.
*Name durch Redaktion geändert
Von Laurent Weißenberger
...studiert Volkswirtschaft und schreibt seit dem Sommer '23 für den ruprecht. Er ist ein Freund der pointierten Kolumne und leitet die Seiten 1-3.