Dass Wladimir Putin für seine Kriegsverbrechen in der Ukraine verurteilt wird, ist aktuell kaum denkbar. Warum der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs dennoch mehr als Symbolcharakter hat
Knapp eineinhalb Jahre dauert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nunmehr. Mit den unter Putin begangenen Verbrechen häufen sich auch die Forderungen der internationalen Gemeinschaft, den russischen Präsidenten zur Verantwortung zu ziehen. Geschehen soll dies vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag.
Einige wichtige Grundsteine für eine Verurteilung Putins hat der IStGH bereits legen können. Nachdem 43 Vertragsstaaten die Ukraine-Situation kollektiv an den IStGH überwiesen hatten, verkündete Chefankläger Karim Khan am 28. Februar 2022, vier Tage nach Beginn des Angriffskriegs, strafrechtliche Ermittlungen zu eröffnen. Es folgte eine Phase der intensiven Beweisdokumentation russischer Kriegsverbrechen, die bis dato von enger Kooperation internationaler Ermittlerteams geprägt ist. Ihren Höhepunkt erreichten die Ermittlungen im März dieses Jahres, als der IStGH Haftbefehl gegen Präsident Putin sowie die russische Kinderrechtskommissarin Lwowa-Belowa erließ. Beiden wird die Verschleppung von Kindern aus der Ukraine nach Russland vorgeworfen. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder wie Kriegsbeute behandelt werden“, unterstrich Chefankläger Karim Khan. Während eine Verurteilung üblicherweise auf niederrangige Personen wie Offiziere oder Soldaten abzielt, gilt der Haftbefehl gegen Putin als historisch, zumal er sich das erste Mal gegen einen amtierenden Staatschef außerhalb Afrikas richtet.
Dennoch bleiben die Befugnisse des IStGH beschränkt. Dies ist zunächst auf das Römische Statut, welches die rechtliche Grundlage des Gerichtshofs bildet, zurückzuführen. Der Vertrag aus dem Jahr 1998 legt fest, dass Verbrechen nur in den Zuständigkeitsbereich des IStGH fallen, insofern sie auf dem Gebiet eines Vertragsstaats oder durch einen Staatsangehörigen eines Vertragsstaats begangen wurden. Weder Russland noch die Ukraine sind unter den 123 Staaten, die das Römische Statut unterzeichnet haben. Allerdings hat die Ukraine zweimal ihr Vorrecht ausgeübt, die gerichtliche Zuständigkeit des IStGH anzuerkennen und somit Ermittlungen auf dem eigenen Staatsgebiet zuzustimmen.
Eine Strafverfolgung wegen des Verbrechens der Aggression hingegen ist derzeit ausgeschlossen. Voraussetzung hierfür wäre Russlands Anerkennung des Römischen Statuts oder eine Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat. Wegen Russlands Vetorecht dürfte auch letztere scheitern, erklärt Politikwissenschaftler Siegfried Schieder, der an der Universität Heidelberg Internationale Beziehungen lehrt. Da das Verbrechen der Aggression, also des Angriffskriegs, die Grundlage aller Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt, wird diese rechtliche Lücke als wesentliche Schwäche des IStGH gewertet. Umgangen werden könnte diese nur durch langfristige Reformen oder dem von Selenskyj geforderten Sondertribunal.
Folgenlos ist der Haftbefehl gegen Putin dennoch nicht. Bereits jetzt zieht er für den Präsidenten beträchtliche Konsequenzen mit sich, die insbesondere seine Reisefreiheit betreffen. Da jeder Vertragsstaat des IStGH zu seiner Verhaftung und Auslieferung nach Den Haag verpflichtet ist, gibt es zumindest 123 Staaten, die Putin vorerst nicht bereisen kann. An der tatsächlichen Verlässlichkeit der Vertragsstaaten gibt es jedoch erhebliche Zweifel: „Hier ist zwischen der rechtlichen Zulässigkeit und der weltpolitischen Großwetterlage zu unterscheiden“, bemerkt Schieder. Aktuell zeigt sich diese Diskrepanz am besten an Südafrikas Regierung, die den russischen Angriffskrieg nicht verurteilt und als Gastgeberland des diesjährigen BRICS-Gipfels an Putins Einladung festhält.
Doch selbst in der Europäischen Union, deren 27 Mitglieder allesamt dem IStGH angehören, gebe es erhebliche Unterschiede, so Schieder. Deutschland etwa würde Putin vermutlich verhaften, Ungarn hingegen nicht. Obwohl die Aussichten auf eine Verurteilung Putins gering scheinen, betonen Völkerrechtskundige immer wieder, dass im Kampf gegen die Straffreiheit ein langer Atem nötig sei. Diese Auffassung teilt auch Schieder und verweist dabei auf den ehemaligen sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir. Dieser wurde mehr als ein Jahrzehnt, nachdem der IStGH Haftbefehl gegen ihn erließ, entmachtet.
„Auch wenn es nach endlosen Verhandlungen zwischen dem Sudan und dem IStGH immer noch nicht zur Auslieferung (…) nach Den Haag gekommen ist, zeigt das Beispiel doch deutlich, dass das Bild eines fest in Amt und Würden sitzenden Staatschefs durchaus trügerisch sein kann“, hält Schieder fest.
Sollte Putins Fassade des unantastbaren Präsidenten eines Tages ebenfalls bröckeln, ist Den Haag bestens auf seine Ankunft vorbereitet.
Von Luzie Frädrich
Luzie Frädrich studiert Politikwissenschaft und Economics. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Ihr Interesse gilt insbesondere politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, darunter auch feministische Themen.