Immer mehr Nachtschwärmer:innen fordern Awareness in der Heidelberger Feierkultur. Eine Reise durch das hiesige Nachtleben, oder was der Schleier der Nacht, Versäumnisse und Heidelberg gemeinsam haben
21:23 Uhr: Die letzten Sonnenstrahlen verschwinden langsam vom Marlene-Dietrich-Platz und die angenehme Abendwärme löst einen weiteren heißen Sommertag ab. Ein Mann fährt auf einem Skateboard vorbei, dann ist der Platz menschenleer. Anders im davor stehenden Karlstorbahnhof: Hier erledigt das Team flink die verbleibenden Vorbereitungen für die heutige „3000 Rave“ Party. „Das ist die Sicherheitsschürze“, erklärt Jakub mit einem Lächeln im Gesicht, während er die neonpinke Weste anlegt. Die reflektierenden Riemen zeigen in handgeschriebenen Großbuchstaben das Wort „Awareness“. Darunter trägt Jakub ein lockeres weißes Hemd und eine weite, pinke Hose. Lidstrich und Fingernägel sind farblich abgestimmt. „Ich kleide mich so, wie ich auch feiern gehen würde. Ich bin Teil dieser Feier; ein Teil der Feiernden.“ Im Gegensatz zum Security-Team, das erkennbar Autorität ausstrahlen muss, möchte Jakub sich nicht zu sehr von den Gästen abheben.
Tagsüber studiert der 21-Jährige in Heidelberg Biowissenschaften, nachts ist er Teil des sogenannten Awareness-Teams auf Veranstaltungen des Karlstorbahnhofs. Momentan ist der Karlstorbahnhof noch die einzige Feierlocation in Heidelberg, die ein Awareness-Team hat. Das Konzept, eigens für die Sicherheit der Feiernden beauftragte Mitarbeitende im Haus zu haben, gibt es schon länger. Allerdings wird seit den 2020er Jahren in Deutschland der Ruf nach solchen Teams lauter: Das berüchtigte Berghain in Berlin führte nach einem Needle-Spiking-Vorfall ein solches Team ein, auf der Frankfurter Buchmesse 2022 wurde eines eingesetzt und selbst bei der Räumung von Lützerath gab es dieses Jahr eine „Awareness-Hütte“. Bei Awareness geht es um respektvolles Verhalten. Es bedeutet so viel wie ‚Bewusstsein‘ oder ‚Achtsamkeit‘ und stellt das Bestreben dar, Menschen einen Raum zu bieten, in dem aktiv gegen übergriffiges oder diskriminierendes Verhalten vorgegangen wird.
22:04 Uhr: Gerade bereitet Jakub den Awarenessraum vor. Es gibt eine schwarze Couch, einen dunkelgrünen Sessel im Stil der 50er und eine Pflanze. Neben der Couch steht ein Servierwagen, den Jakub mit Wasserflaschen, Snacks und Taschentüchern bestückt. An den Wänden hängen Kontaktlisten von Beratungsstellen und ein Plakat, das Sicherheit im Nachtleben bewirbt. Ein Bodenleuchter taucht den Raum in sanftes Lila. Falls Feiernde sich nicht gut fühlen, können sie sich hier zurückziehen. Im Awareness-Konzept der Location stehen allgemeine Hinweise zu Gesundheit und Wohlbefinden beim Feiern, es wird zu reflektiertem Alkoholkonsum geraten und an ein solidarisches Miteinander appelliert. „Wir tolerieren keine Diskriminierung, ebenso wenig sexuelle Belästigung, Gewalt und Übergriffe. Uns ist respektvoller Umgang wichtig – ich achte darauf, dass sich hier alle wohlfühlen können“, fasst Jakub seinen Job zusammen.
Die Awareness-Bewegung kommt nicht von ungefähr und dass sich nachts alle Menschen wohlfühlen, ist selbst in Deutschland noch utopisches Wünschen. Eine Studie aus dem Jahr 2014 der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat ergeben, dass zwei von drei Frauen ab ihrem 15. Lebensjahr sexuelle Belästigung erleben. Die kürzlich erschienene kontroverse Studie von Plan International mit dem Thema „Männlichkeit“ scheint die Erklärung zu liefern: 41 Prozent der Männer hielten es für ihr gutes Recht, Frauen in der Öffentlichkeit hinterher zu pfeifen.
Die Situation in Heidelberg
Nun leben wir im heilen Heidelberg, hier passiert ja nichts. Zumindest wünscht sich die Stadt das so. Wie es um das Sicherheitsgefühl der Heidelberger:innen bestellt ist, hat die Stadt im Frühjahr dieses Jahres durch eine Bürgerbefragung feststellen lassen. Verantwortlich für das „Sicherheitsaudit Heidelberg 2023“ war Dieter Hermann, Professor am Kriminologischen Institut der Universität. Die Ergebnisse der Studie wurden am 19. Juni 2023 bei einer Pressekonferenz im Rathaus vorgestellt. Fast einmal zu oft wurde dabei betont, dass sich die meisten Menschen hier sicher fühlten. Wohl gab es in der Befragung eine Personengruppe mit hoher Kriminalitätsfurcht: junge Frauen. Auch wurde festgestellt, dass es der Bevölkerung an Sensibilität für die Befindlichkeiten von queeren Menschen fehle. Von den Leuten, die sich in der Altstadt unsicher fühlen, seien hier 50 Prozent selten nachts unterwegs. Daraus leitet Hermann ab, dass dieses Unsicherheitsgefühl auf Vorurteilen basiere: „Dies zeigt, dass bei fehlender eigener Erfahrung Alltagstheorien und Stereotype relevant werden.“
Die Kriminalstatistik 2022 des Polizeipräsidiums in Mannheim schließt aus angezeigten Straftaten, dass sich im Stadtkreis Heidelberg die Sicherheit im öffentlichen Raum erhöht habe. Da hierbei allein angezeigte Straftaten berücksichtigt werden, bestätigt das Sicherheitsaudit das hohe Dunkelfeld: Von den Bürger:innen, die in den letzten zwölf Monaten beispielsweise einen sexuellen Angriff erlebt hatten, haben nur 7,5 Prozent die Tat angezeigt. Gründe für eine Nichtanzeige waren etwa die Vermutung, dass der:die Täter:in nicht ermittelt oder verurteilt worden wäre. Weitere 9,6 Prozent wollten nichts mit der Polizei zu tun haben.
2022 hatten sich 99 Prozent mehr Betroffene an den Frauennotruf gewandt
Auch die Statistik des Frauennotruf gegen sexuelle Gewalt an Frauen und Mädchen e.V. Heidelberg verzeichnet einen Anstieg an Beratungsbedarf: So hätten sich im Jahr 2022 99 Prozent mehr Betroffene an den Frauennotruf gewendet; ebenso ist ein 96 prozentiger Anstieg an Beratungen von Angehörigen der betroffenen Frauen erfasst worden. Die Zahl der Beratungen, bei denen ein starker Verdacht auf K.-o.-Tropfen vorlag, hat sich mehr als vervierfacht. Allein in der Kernstadt wurde 2022 monatlich durchschnittlich eine Vergewaltigung beim Frauennotruf gemeldet; dieses Jahr zählte man bis Juni bereits neun.
Um die Kriminalitätsfurcht zu senken, schlägt Hermann im Sicherheitsaudit neben städtebaulichen Maßnahmen vor, die Kriminalprävention auch auf der „Opferseite“ anzusetzen: „Durch die Stärkung von Resilienz und der Einübung angemessener Verhaltensweisen“ sollen sich junge Frauen „insbesondere bei Begegnungen mit alkoholisierten Personen“ sicherer fühlen. Eben diesen Ratschlag richtet er neben der Prävention von sexuellen Angriffen und Herabwürdigungen auch an Menschen aus der LGBTQIA*-Community. Unter dem neoliberalen Schutzmantel von Resilienz geht aus der Studie nicht hervor, dass nur dann keine Übergriffe stattfinden, wenn keine Person übergriffig ist.
Geschultes Personal im Nachtleben
„Es gibt keinen 100-prozentigen Schutz vor Übergriffen im Nachtleben. Daher ist es gleichzeitig wichtig zu wissen, welche Schritte man gehen kann, um an handlungskompetente Personen zu gelangen. Das versuchen wir mit den Kampagnen ‚Luisa ist hier‘ und Nachtsam umzusetzen“, erklärt Miriam Ott. Die Pädagogin ist beim Frauennotruf Heidelberg für Fortbildungen im Bereich der sexualisierten Gewalt zuständig und schult unter anderem die Nachtszene. Die kostenfreien Kampagnen ergänzen sich inhaltlich, weshalb sie seit 2021 im Paket schult. Ott sensibilisiert Mitarbeitende des Nachtlebens und vermittelt durch eine betroffenenzentrierte Haltung Handlungssicherheit im Umgang mit sexualisierter Gewalt und Diskriminierung.
Die Präventionskampagne „Luisa ist hier“ wurde 2016 von der Beratungsstelle Frauen-Notruf Münster e.V. nach dem englischen Vorbild „Ask for Angela“ ins Leben gerufen. Der Heidelberger Frauennotruf schult seit 2018 Geschäfte und Nachtlokale nach diesem von der Stadt geförderten Konzept. Mit der Frage „Ist Luisa hier?“ können sich Gäste in Bars und Clubs an das Personal der teilnehmenden Lokale wenden und niedrigschwellige Hilfe bei sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt erhalten: So fragen die Mitarbeitenden zum Beispiel, ob die Freund:innen, ein Taxi oder die Polizei informiert werden soll.
Ein ähnliches Ziel verfolgt die Kampagne Nachtsam: Die vom baden-württembergischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration finanzierte Kampagne „Nachtsam. Mit Sicherheit besser feiern“ richtet sich seit September 2021 an Mitarbeitende der Nachtgastronomie. Die Schulung zeigt Handlungskonzepte auf, um präventiv und aktiv gegen sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Übergriffe gegen Menschen im Nachtleben vorgehen zu können. Durch die beiden Awareness-Schulungen lernen Locations eine Handlungskette kennen, die auch dem Personal selbst hilft – denn dieses kann auch selbst betroffen sein. „Geschulte Mitarbeitende melden uns oft zurück, dass sie froh sind jetzt zu wissen, was zu tun ist und wo die Gefahren liegen“, bestätigt Ott.
00:12 Uhr: Mittlerweile gibt es eine Schlange beim Einlass. Jakub hilft an der Kasse beim Stempeln, begrüßt die Gäste freundlich und zeigt Präsenz. Ein junger Mann deutet auf Jakubs Weste und ruft begeistert „Saucool, dass ihr Awareness macht!“. Die Reaktionen auf das Awareness-Team seien überaus positiv: „Anfangs musste man die Idee oft erklären“, sagt Jakub, „aber bis auf zwei oder drei haben sich bisher alle gefreut.“ Geschult ist der Karlstorbahnhof unter anderem durch „Luisa ist hier“ und Nachtsam.
Die Schulung der Heidelberger Kneipen und Bars läuft schleppend
Wer in Heidelberg in einer aktuell geschulten Location feiern möchte, kann diese auf den Websites von Nachtsam und dem Frauennotruf einsehen. Wer das tut, wird merken, dass von den vielen Kneipen, Bars und Clubs nur drei Einrichtungen Nachtsam geschult sind: die Halle02, das Toniq und der Karlstorbahnhof. „Ich bin immer hinterher, die Heidelberger Locations anzufragen. Es ist eine frustrierende Angelegenheit: etwa 40 Locations regelmäßig kontaktieren, anrufen, anschreiben. Wenn man einmal jemanden erreicht, scheint das Interesse groß zu sein. Wenn es dann um die Terminabsprache geht, werden wir geghostet“, erklärt sich Ott die bescheidene Anzahl an geschulten Heidelberger Einrichtungen, „die Mannheimer Locations sind auf diesem Gebiet weiter.“
Nachtbürgermeister als Kooperationspartner
Vor allem in der Mannheimer Feiergegend Jungbusch wird die Schulung angenommen. Ott lobt für diese Entwicklung auch den Mannheimer Nachtbürgermeister Robert Gaa. Der DJ, Veranstalter und gelernte Maschinenbautechniker hat 2020 das neuartige Amt übernommen. Mannheim war die erste Stadt in Deutschland, die diese Stelle schuf. Seit 2018 unterstützt der Nachtbürgermeister der Stadt hier als beratender Vermittler zwischen den diversen Betrieben, Behörden und der Verwaltung sowie den Bürger:innen und Gästen. Dabei übernimmt ein:e Nachtbürgermeister:in eine entscheidende Schnittstellenfunktion bei der kulturellen Stadtentwicklung.
Sicherheit im Nachtleben sieht Gaa als integralen Teil seiner Arbeit. Zu Beginn seiner Tätigkeit als Nachtbürgermeister hat er sich aus eigenem Antrieb Nachtsam schulen lassen: „Ich wollte sehen, was ich da empfehle. Außerdem ist es einfach wichtig zu wissen, wie man sich in bestimmten Situationen verhält.“ Er erzählt, dass „die meisten Schulungen über persönliche Ansprache und Vermittlung“ liefen. „Aber ich vermisse die Eigeninitiative [der Betreiber:innen von Bars und Kneipen]. Das ist ein superwichtiges Programm. Da muss man einfach dranbleiben.“
Auch die Stadt Heidelberg hat seit 2021 das Amt des Nachtbürgermeisters eingeführt. Vom Gemeinderat gewählt und bei Heidelberg Marketing eingestellt, teilen sich Jimmy Kneipp und Daniel Adler die Vollzeitstelle. Zu ihren Projekten gehören die Förderung junger Feierkultur und die Night Coaches. Seit Einführung der Kampagne in Heidelberg sind die Nachtbürgermeister ebenfalls Kooperationspartner von Nachtsam. „Wir gehen Face-to-Face mit den Betreibern ins Gespräch und vermitteln die Wichtigkeit der Schulung. Sie sollte jährlich aufgefrischt werden. Viele Gastronomen fragen sich, wo dabei der Nutzen ist“, erklärt Kneipp im Gespräch. Durch die Kooperation sollen Ideen, Kontakte und Ressourcen genutzt werden, um die Kampagne bekannter zu machen.
Zu Beginn des Jahres berichtete der Mannheimer Morgen, dass sich die Stadträtin Hildegard Stolz von der Partei „Bunte Linke Heidelberg“ mehr Zusammenarbeit von Seiten der Nachtbürgermeister mit den Präventionskolleginnen des Frauennotrufs wünschte. Sie selbst arbeitet seit 2014 beim Frauennotruf. Kneipp versprach, dass die Night Coaches bald geschult würden und es bislang nur aus Zeitgründen nicht dazu gekommen sei. Im Juni dieses Jahres behauptete die Stadt nun in der Pressekonferenz zum Sicherheitsaudit, dass die Night Coaches der Nachtbürgermeister bereits Nachtsam geschult seien, was bis Veröffentlichung nicht der Fall war. Auch Stadträtin Dorothea Kaufmann von der Grünen Fraktion behauptete dies fälschlicherweise in einem Stadtblatt-Artikel. Hinzu kommt, dass Kneipp neben seiner Tätigkeit als Nachtbürgermeister selbst eine Kneipe betreibt. Seit sieben Jahren gehört ihm das Fandango in Rohrbach – in dem man bis dato weder „Luisa ist hier“, Nachtsam, noch anderweitig für Sicherheit im Nachtleben geschult ist.
Kooperationspartner und nächtliche Wege
Neben den Heidelberger Nachtbürgermeistern sind unter anderem auch die Stadt Heidelberg, die Rhein-Neckar-Verkehr GmbH (RNV), die Ruprecht-Karls-Universität und die Pädagogische Hochschule Heidelberg Kooperationspartner der Kampagne für mehr Sicherheit.
„Generell haben unsere Fahrgäste zu späten Stunden ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis“
In Heidelberg nutzen viele Nachtschwärmer:innen den RNV, um von A nach B zu kommen. „Generell haben unsere Fahrgäste zu späten Stunden ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis, das ergibt sich aus diversen Fahrgast-Studien und Umfragen“, erklärt die RNV-Sprecherin Victoria Pfaff. Weiterhin berichtet sie, dass die Reaktionen der Fahrgäste gegenüber dem Kontroll- und Sicherheitspersonal überwiegend positiv seien. Im Notfall stünden Bus- und Bahnfahrer:innen mit der Betriebszentrale über Funk in Kontakt, die wiederum im Bedarfsfall die Polizei benachrichtigen kann. Die Fahrzeuge seien videoüberwacht, die Aufnahmen werden auf polizeiliche Anordnung hin zur Auswertung zur Verfügung gestellt. Des Weiteren gebe es Notruftasten an Fahrausweisautomaten oder im Fahrzeug. „Wir prüfen darüber hinaus jede eingehende Fahrgastmeldung zum Thema Sicherheit und setzen bei Bedarf geeignete Maßnahmen um“, sagt Pfaff. Nachtsam geschult sind die RNV-Mitarbeiter:innen nicht.
Frauen, denen der Weg zu oder von der Haltestelle in der Dunkelheit zu weit ist, können seit 1992 innerhalb der Stadtgrenzen Heidelbergs von 22 bis 6 Uhr das Frauen-Nachttaxi nutzen. „Das Frauen-Nachttaxi wurde als geschlechtsspezifisches Angebot eingeführt, um Frauen präventiv zu schützen und ihr Sicherheitsempfinden – und somit ihre gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Raum – in den Abend- und Nachtstunden zu erhöhen“, erklärt Sascha Balduf die Motivation hinter dem Fahrtschein. Er ist Pressesprecher für die Stadt Heidelberg. Männer dürfen die Fahrtscheine bisher nicht nutzen.
Seit Einführung des Frauen-Nachttaxis sei die Zahl der jährlich eingelösten Fahrtscheine stetig gestiegen; im Vor-Corona Jahr 2019 gab es 11.160 Fahrten. Während der Pandemie ist aufgrund der Schließung des öffentlichen und kulturellen Lebens ein Rückgang der Fahrten sichtbar geworden; im Jahr 2022 wurden schließlich knapp 6000 Fahrten dokumentiert. Seit 2019 kostet der Fahrtschein sechs Euro und muss nach Vorlage des Personalausweises oder Passes vorher in Heidelberger Bürgerämtern und beim Bürgerservice im Rathaus gekauft werden. Zusätzlich muss vor der Taxifahrt geklärt werden, ob das Taxiunternehmen den Fahrschein akzeptiert, denn nicht alle Taxen in Heidelberg haben sich dem Frauen-Nachttaxi angeschlossen.
Auch die Universität Heidelberg beschäftigt sich seit den frühen 2000ern mit der Sicherheit ihrer Angestellten und Studierenden bei Nacht. „Das erste ‚Walksafe‘-Konzept wurde bereits 2001 erarbeitet, und eine Broschüre zum Sommersemester 2001 zum ersten Mal verteilt“, informiert die Pressestelle der Universität. „Diese – kontinuierlich aktualisierten – Informationen gehen weiterhin an alle neuimmatrikulierten Studierenden, unabhängig vom Geschlecht.“
„Walksafe“ ist ein Konzept zur nächtlichen Sicherheit auf dem Campusgelände im Neuenheimer Feld. Dazu gehört der kostenlose Begleitservice durch den Wachdienst: Ab Einbruch der Dunkelheit können sich Angehörige der Universität Heidelberg sowie des Klinikums von Labor, Hörsaal, Wohnheim oder Haltestelle auf ihrem Weg begleiten lassen. Dieser Service wurde im Jahr 2021 mehr als 550 Mal in Anspruch genommen. Weitere Schutzmaßnahmen listen Tipps wie das Nutzen von Trillerpfeifen und beleuchteten Wegen statt Schleichwegen auf. Sicherheitskonzepte für die Altstadt und den Campus Bergheim befinden sich laut Website der Universität in der Planungsphase. Die Ausweitung dieses Sicherheitskonzepts ist bereits seit 2014 in der Planung, wie der ruprecht berichtete.
UNIFY, die zentrale Einrichtung für die Themen Familie, Vielfalt und Gleichstellung an der Universität Heidelberg, ist seit 2022 Kooperationspartner von Nachtsam. Dieses Jahr wurden Plakate an alle Institute sowie den Studierendenrat weitergegeben, um die Kampagne bekannter zu machen. Zudem habe UNIFY die Schulungsmöglichkeiten intern beworben. „Soweit bekannt, haben Fachschaften dieses Angebot in Anspruch genommen“, so die Pressestelle zur Rolle der Universität als Kooperationspartner.
Auf die Frage, welche Rolle die Pädagogische Hochschule in der Kooperation mit Nachtsam einnimmt oder was für die Sicherheit von Mitarbeitenden und Studierenden nach Sonnenuntergang getan wird, erhielt der ruprecht von der Hochschule nach mehreren Anfragen keine Antwort.
Feiern in Heidelberg
Neben den drei Locations, die sich seit 2018, bzw. seit 2021 mit „Luisa ist hier“ und Nachtsam haben schulen lassen, gibt es drei Einrichtungen des Nachtlebens in Heidelberg, die sich vor der Pandemie beim Frauennotruf mit der ersteren Kampagne hatten schulen lassen: die Villa Nachttanz, das Jinx in der Unteren Straße und Mel’s Bar unweit vom Marktplatz. Diese Einrichtungen haben das Angebot, die Schulung mit Nachtsam aufzufrischen, bisher nicht angenommen. Auf die Anfrage, warum eine Auffrischung nicht stattgefunden hat, erhielt der ruprecht von Jinx und Mel’s Bar keine Antwort. Dabei ist nicht nur die Fluktuation der Mitarbeitenden in der Gastronomie und Barszene ein wichtiger Grund, die Schulungen regelmäßig zu wiederholen.
3:02 Uhr: Acid Techno pulsiert über die Lautsprecher; die Tanzfläche ist voll. Bunte LED-Lichtstrahlen blitzen durch den Raum und hin und wieder verirrt sich durch die Fensterfront ein Licht auf den ansonsten in Dunkelheit liegenden Marlene-Dietrich-Platz. Jakub bekommt per Funk vom Bar-Team Bescheid, dass eine junge Frau desorientiert wirke. Auf dem Weg trifft er Yazan, der im Haus für die Technik zuständig ist. Yazan stützt die Frau. Sie ist wackelig auf den Beinen; fragt nach ihren Freundinnen. Jakub und Yazan helfen bei der Suche. Niemand soll die Situation der jungen Frau ausnutzen. Die Freundinnen sind fix gefunden. Alle Mitarbeitenden haben die Lage auf der Party aufmerksam im Blick. Als die Gruppe geht, gibt Jakub ihnen eine Flasche Wasser mit.
Dass man Heidelberg aber auch Nachtsam feiern kann, beweist ebenso die Halle02: „Wir bieten mindestens zweimal im Jahr eine Schulung mit Nachtsam in Verbindung mit dem Frauennotruf an. Für alle unserer über 100 Mitarbeitenden ist mindestens eine Schulung im Jahr vorgegeben“, erklärt Felix Grädler. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Kultur- und Konzerthauses Halle02. Die Halle02 und der Karlstorbahnhof waren die ersten Einrichtungen in Heidelberg, die sich durch eigenen Antrieb „Luisa ist hier“ und Nachtsam schulen ließen.
Mehr studentische Fachschaften in Heidelberg geschult als Bars, Kneipen und Clubs zusammen
Auch unter den Studierenden der jüngsten Stadt Deutschlands ist das Interesse an Awareness in der Feierkultur präsent – was man daran erkennt, dass in Heidelberg mittlerweile mehr Fachschaften der Universität und Hochschule Nachtsam geschult wurden als Bars oder Kneipen. Die Fachschaften Politikwissenschaft, Soziologie und VWL zum Beispiel ließen sich in Vorbereitung auf die diesjährige Sommerparty des Campus Bergheim schulen: „Ein ‚Wir sind da‘ hat ausgereicht, um kritische Situationen schnell zu klären“, erinnert sich Julia. Die 21-Jährige studiert Politikwissenschaft und Öffentliches Recht und war Teil des Awareness-Teams auf der Sommerparty.
„Ich finde, dass wir in Heidelberg eine sehr schlechte Situation haben. Wenn man dann merkt, dass man sich nicht einmal in den Kneipen selbst sicher fühlen kann, macht das Feiern in der Unteren zum Beispiel keinen Spaß. Da sind die eigenen Erfahrungen und die von Freunden – dort gibt es so oft sexuelle Übergriffe. Es ist wichtig, dass hier geschult wird. Durch die Schulung hatten wir ein viel besseres Gefühl, worauf beim Sommerfest zu achten ist. Das Awarenesskonzept werden wir auf der nächsten IPW-Party und den Kneipentouren weiterführen“, berichtet Julia über ihre Motivation, sich schulen zu lassen und fährt fort: „Wenn schon Fachschaften anfangen, sich schulen zu lassen, dann ist das ein klares Zeichen für den Bedarf in Heidelberg.“
4:51 Uhr: Die Party ist beinahe vorbei. Bis auf ein paar Fälle von zu hohem Alkohol- und Drogenkonsum gab es heute glücklicherweise keine ernsteren Vorkommnisse. Für Jakub ist das Ende der Nacht gleichzeitig das Ende der Awareness-Schicht. Die letzten Nachteulen treten in die frische Morgenluft. Es ist hell. In ein paar Minuten werden die ersten Sonnenstrahlen über den Baumkronen des gegenüberliegenden Ameisenbuckel aufgehen und auf den Marlene-Dietrich-Platz treffen.
Von Daniela Rohleder
Diese Anlaufstellen bieten Hilfe an
Begleitservice der Universität im Neuenheimer Feld
Tel.: 06221 54 5555
Nach Einbruch der Nacht können sich Studierende und Mitarbeitende unabhängig ihres Geschlechtes oder ihrer sexuellen Identität nachts im Neuenheimer Feld (INF) kostenlos von einer Sicherheitskraft des Wachdienstes an ihre Arbeitsstelle, ihr Auto, die Haltestelle oder zum Wohnheim begleiten lassen. Es gelten die Telefongebühren deines Mobilfunkanbieters für einen Anruf in das deutsche Festnetz.
Frauen-Nachttaxi Heidelberg
Für Frauen im Stadtgebiet Heidelberg zwischen 22 bis 6 Uhr nutzbar (Frauen ab 60 Jahren dürfen den Service bereits ab 20 Uhr nutzen). Ein Fahrtschein muss vorher im Bürgeramt oder im Rathaus erworben werden. Nur durch Wagen, die der Taxi-Zentrale angeschlossen sind. Möglich ist die telefonische Bestellung eines Wagens unter der Telefonnummer 06221 302030.
Heimwegtelefon e.V.
Tel.: 030 12074182
Telefonische Sprechzeiten:
So., Do.: 20–24 Uhr
Fr., Sa.: 20–3 Uhr
Beim Heimwegtelefon wird man deutschlandweit von einem:einer Ehrenamtlichen telefonisch bis nach Hause begleitet, wenn man sich auf dem Heimweg unwohl fühlt. Es gelten die Telefongebühren deines Mobilfunkanbieters für einen Anruf in das deutsche Festnetz.
Frauennotruf Heidelberg
Tel.: 06221 183643
Telefonische Sprechzeiten:
Mo., Fr.: 10–12 Uhr
Di., Do.: 14–16 Uhr
Beratung von Frauen* und Mädchen* ab 14 Jahren, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.
Bezugspersonen wie beispielsweise Angehörige, Freund:innen und Lehrkräfte, die einen Verdacht haben, können sich ebenfalls an den Frauennotruf wenden.
Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch
Tel.: 0800 2255530
Telefonische Sprechzeiten:
Mo., Mi. und Fr.: 9–14 Uhr
Di., Do.: 15–20 Uhr
Das Hilfe-Telefon ist eine Anlaufstelle für Menschen, die Entlastung, Beratung und Unterstützung suchen, die sich um ein Kind sorgen, die einen Verdacht oder ein „komisches Gefühl“ haben, die unsicher sind und Fragen zum Thema stellen möchten. Bundesweit kostenfrei und anonym erreichbar.
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen
Tel.: 116 016
Beratung ist per Online Chat, Telefon oder E-Mail möglich.
24 Stunden an 365 Tagen im Jahr
Kostenloses und vertrauliches bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die von Gewalt betroffen sind oder waren und deren soziales Umfeld und Fachkräfte. Die Beratung gibt es in 18 Sprachen (auch Gebärdensprache und Leichter Sprache).
Opfer-Telefon Weißer Ring e.V.
Tel.: 116 006
Telefonische Sprechzeiten:
Täglich 7–22 Uhr
Der bundesweit tätige Opferhilfeverein Weißer Ring unterstützt kostenfrei Opfer von Kriminalität und Gewalt per Online-Beratung und über das Opfer-Telefon.
Krisentelefon der „Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V.“
Tel.: 0800 70 222 40
Die bundesweit kostenfreie Hotline im Rahmen des Präventionsprojektes „Keine Gewalt- und Sexualstraftat begehen“ bietet telefonische therapeutische Hilfestellungen für Menschen an, die befürchten, eine Straftat zu begehen. Insbesondere zu Gewalttaten neigende Personen können dieses anonyme Angebot nutzen.
...studiert Editionswissenschaft & Textkritik im Master und ist im Herbst 2021 beim ruprecht eingestiegen. Zwischen Oktober 2022 und November 2023 leitete sie das Ressort „Studentisches Leben“. Auch thematisch widmet sie ihr Zeichenlimit gerne dem studentischen Blick auf die Umwelt – wobei sie einiges über Radiosender, Feierkultur und Elternschaft gelernt hat.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.