Linda ist 54 Jahre alt und studiert Philosophie und Theologie an der Universität Heidelberg. Sie ist die Älteste im Hörsaal, hat neben ihrem Studium einen Job und leistet Care-Arbeit. Damit fällt sie zwischen ihren jüngeren Kommiliton:innen erst einmal aus der Reihe. Wie sie ihr Studium wahrnimmt, ob mit dem Alter wirklich die Weisheit kommt und was unsere Generationen verbindet, erzählt sie ruprecht-Redakteurin Carla Scheiff in unserem neuen Frageformat.
Wer bist du, Linda?
Ich bin Linda Scheuermann, Jahrgang 1969 und falle deshalb in manchen Veranstaltungen meines Studiums ein bisschen aus dem Rahmen. Ich studiere Philosophie und Christentum und Kultur – ein Studiengang der Theologischen Fakultät.
Ich habe erst kurz vor meinem 50. Geburtstag das Abitur am Abendgymnasium gemacht. Da eines meiner Kinder eine Behinderung hat, war ich immer viel in Care-Arbeit eingebunden. Nebenbei hatte ich eine Teilzeitstelle, die dann aber endete. Von der Arbeitsvermittlung wurde ich als schwer vermittelbar eingestuft. Keinen Beruf zu haben, auf den ich zurückfallen könnte, wenn die Kinder einmal ausziehen, wollte ich nicht riskieren. Also fragte ich mich, was ich im Leben noch machen will.
Wieso fiel deine Entscheidung auf ein philosophisches Studium?
Am Abendgymnasium war Philosophie eines meiner Lieblingsfächer. Mein Abitur lief so gut, weshalb ich mich an der Uni einschrieb. Ich entschied mich für ein Studium, das nicht zwingend auf ein bestimmtes Berufsbild zuführt. Ich wollte etwas studieren, mit dem nicht nur ich etwas machen kann, sondern das auch etwas mit mir macht.
Glaubst du, du nimmst das Studium anders wahr als deine jüngeren Kommiliton:innen?
Ich kann immer nur feststellen: Das Studium ist eine Form der Selbsterfahrung. Man lernt sich selbst kennen! Ich habe mich schon als junger Mensch bei Abgaben unter Druck gesetzt. Jetzt müsste ich mich über die Dauer oder die Ergebnisse meines Studiums vor niemandem mehr rechtfertigen. An dem Druck hat sich aber nichts verändert.
Es ist schon eine Herausforderung, Familie, Care-Arbeit und mein Studium unter einen Hut zu bringen. Weder mein Ehemann noch mein Freundeskreis bewegen sich im Studienalltag oder im wissenschaftlichen Betrieb. Die Freizeitgestaltung gestaltet sich da oft schwierig. Wenn meine verschiedenen Lebensbereiche sich gegenseitig einzuschränken drohen, halte ich mir vor Augen, welches Privileg es ist, studieren zu können.
Wie ist es, die Älteste im Hörsaal zu sein?
Natürlich ist es ein Kriterium, das mich erst einmal absondert. Je größer eine Veranstaltung ist, desto mehr vereinzelt es mich auch. Ich werde nicht komisch angeguckt, aber ich kann mir vorstellen, dass die Hürde größer ist, mit mir ins Gespräch zu treten. Auch für mich ist es eine Überwindung und ich muss immer einen extra Schritt gehen, um Kontakte zu knüpfen. Als eher schüchterner Mensch ist das für mich gar nicht so einfach. In Seminaren kommt man schon eher miteinander ins Gespräch. Da spielt das Alter dann ganz schnell keine Rolle mehr, weil man merkt, dass die Inhalte uns verbinden. Das finde ich toll. Generell ist der Austausch mit Jüngeren total gewinnbringend und wichtig für mich.
Es heißt, mit dem Alter kommt die Weisheit. Glaubst du, gegenüber deinen Kommiliton:innen einen Vorteil zu haben?
Das empfinde ich überhaupt nicht so! Ich glaube tatsächlich, mir bei manchen Dingen mehr Stress zu machen, da mir oft die gewisse Unbedarftheit fehlt, die man als jüngere Studierende vielleicht noch hat. Auf keinen Fall fühle ich mich deshalb weiser. Ich glaube, wir sind alle Anfänger in dem, was wir gerade tun. Und dann gibt es immer die Brains, zu denen sowieso alle aufschauen. [lacht]
Welche Ambition treibt dich in deinem Studium an?
Vor allem ist es eine intrinsische Motivation. Zwar würde ich gerne berufstätig bleiben und fände es auch schön, die Inhalte meines Studiums dort zukünftig einbringen zu können, aber ich habe noch keine konkrete Vorstellung.
Entweder es wird sich etwas Berufliches daraus entwickeln oder mein Studium bleibt etwas, das ich privat weiterverfolge. Ich könnte mir zum Beispiel einen philosophischen Gesprächskreis vorstellen. Mir war immer wichtig, etwas zu studieren, das man mit anderen teilen kann. Und ich wollte etwas studieren, das mich über das Rentenalter hinaus im Kopf beschäftigt.
Wieso ist dir der Austausch mit der jüngeren Generation so wichtig?
Mir ist es wichtig, Kontakt zur Erfahrungswelt jüngerer Leute zu haben, auch wenn wir uns darüber natürlich immer nur vereinzelt austauschen. Ich merke, dass auch ich Interesse bei den jüngeren Kommiliton:innen wecke.
Ich habe die Erfahrung gemacht: Wir denken über dieselben Themen nach – sei es der Umgang mit dem Klimawandel, der Krieg in Europa und unserer Verantwortung als Menschen. Das alles sind generationenübergreifende Fragen. Deshalb ist der Austausch sehr bereichernd.
Gibt es auch Unterschiede, die unsere Generationen ausmachen und Dinge, über die du vielleicht sogar den Kopf schüttelst?
Natürlich haben wir oft unterschiedliche Ansätze, auf das Leben zu schauen oder Entscheidungen zu treffen. Ich merke immer wieder, dass das Thema der „Work-Life-Balance“ bei euch jüngeren Menschen anders verankert ist als in meiner Generation. Wir haben gelernt und von uns selbst erwartet, dass wir uns für einen Arbeitsgeber ausbeuten. Ich finde es sehr gut, dass ihr Jüngeren es häufig anders auf dem Schirm habt, nach einer Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensbereiche zu suchen.
Auf der anderen Seite glaube ich, dass das eine Freiheit ist, die auch zu Druck führen kann. Ich denke, dass ihr öfter unter Druck steht, beweisen zu müssen, im Ausland gewesen zu sein und viele Erfahrungen gesammelt zu haben. Das birgt die Gefahr, immer darauf zu achten, wie man nach außen wirkt und zu vergessen, dass jeder Mensch per se schon etwas Besonderes ist.
Welchen Ratschlag würdest du also uns jüngeren Studierenden mit auf den Weg geben?
Am Anfang meines Studiums hat mir eine Freundin einen Satz gesagt, den ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufe. „Stell dir immer wieder die Frage: Womit willst du am Ende dieses Studiums rausgehen? Wo willst du weitergekommen sein und was möchtest du für dich persönlich erreicht haben?
Richte deine Inhalte und dein Streben an diesen Fragen aus, statt daran, welche Noten du für welche Abgabe erhältst.“ Ich habe dann festgestellt, dass sich das gar nicht gegenseitig ausschließt – im Gegenteil. In erster Linie geht es aber darum, was einen im Innersten anspricht und dass man das nicht aus dem Auge verliert.
Womit sollten sich die Menschen generell mehr beschäftigen und worüber sollte mehr gesprochen werden?
Ich finde es ganz wichtig, dass über Dinge gesprochen wird. Wir dürfen nicht zu bequem werden, über etwas nachzudenken, auch wenn es uns im ersten Moment stört. Themen, wie der Klimawandel oder die Genderdebatte, sollten uns unterbrechen dürfen. Das bedeutet nicht, dass wir alle gleich zu demselben Ergebnis kommen müssen, aber wir sollten die Diskussion aushalten können und sie als Bereicherung sehen. Wir müssen nach Lösungen suchen, aber die Suche an sich ist bereits wichtig.
Das Interview führte Carla Scheiff
...interessiert sich für Kultur und Politik und studierte deshalb Germanistik im Kulturvergleich und Politikwissenschaften. Seit 2021 schrieb sie für den ruprecht und leitete Seite 1-3. Am liebsten widmet sie sich gesellschaftspolitischen Themen und Fragen, die unsere Generation bewegt.