Zur Ersti-Woche muss mit starken Turbulenzen gerechnet werden: Techno-Beats, Tequila und Tutorium hautnah – ein traumatisches Erlebnis für alle
Erstis in Heidelberg haben einen Bewegungsradius, der sich vom Hörsaal bis zur nächsten Bar in der Unteren erstreckt. Genau hier bekommst du einen ersten Eindruck davon, wie die Altstadt um drei Uhr nachts bei zwei Flaschen Rothaus zu viel aussieht. Das mag im ersten Moment nach einer geringen Distanz klingen. Für jemanden, der um 2:37 Uhr auf die Idee kommt, an der Stange im Jinx zu strippen oder den dritten Vodka Lemon bestellt, um dem heißen Barkeeper in der Destille beim Zitronenschälen zuzuschauen, ist es eine Zumutung.
Es besteht ein allgemeiner Interessenskonflikt zwischen deinem Studium und deinen Freund:innen, die um 14 Uhr morgens schon ganz genau wissen, dass am Abend wieder ein illegaler Rave im Wohnheim stattfinden wird. Mein Mitgefühl geht an den Nachbarn von nebenan, der uns seit der ersten Runde Rage-Cage höchst engagiert mit seinem Fernglas observiert.
Wenigstens versucht die Uni, ein Konkurrenzprogramm zu bieten. Ich meine, die Triplex hört sich an wie ein Club und die Spinatlasagne lässt lebhafte Assoziationen vom letzten turbulenten Abend hochkommen. Und trotzdem: Wenn du irgendwann cum tempore maximo in den Hörsaal kommst und anscheinend die Hälfte deines Latein-Kurses Muttersprachler:innen sind – in solchen Momenten wird die Ausbildung zum Taxifahrer en vogue wie Athene in ihrem orangenen Dress.
Und ganz vielleicht hättest du gestern doch nicht nach Luisa fragen sollen, als der Cornelius deines Vertrauens dich mit seinen abschreckenden Ausführungen über Economics und sein Aktiendepot angeflirtet hat – denn dann wüsstest du jetzt immerhin, wie du dein Bafög investieren könntest, sollte dein Studium schieflaufen, wie die Leute von der Fachschaft nach der Kneipentour. In solchen Fällen ist es Zeit für Zimtschnecken, die deine Probleme zwar nicht lösen werden, aber nachgewieslich ein adäquates Mittel in der Krisenbewältigung darstellen – darauf kannst du wetten.
Evaluieren wir nach den ersten Wochen in Heidelberg die Lage: Nudeln mit Pesto kannst du mittlerweile kochen wie eine italienische Großmutter, die Waschmaschine in deiner WG ist weiterhin unverständlicher als die Einführungsvorlesung zu Quantenphysik, du gehst nur in die Bibliothek, weil dein Crush sowas wie Lernen feiert und bei deinem 20-Euro-Fahrrad von Ebay ist gerade der Hinterreifen explodiert. Ungünstig, weil Heidelberger Cops darauf spezialisiert sind, betrunkene E-Roller-Fahrer:innen aus dem Verkehr zu ziehen.
Das ist Ersti-Uni-Balance auf erhöhtem Niveau: schwerer als jede Prüfung und fast so strapaziös wie die Wohnungssuche auf dem Heidelberger WG-Strich. Denn letzten Endes bleibt dir bei diesem Thema realistisch gesehen nur die Wahl zwischen bodenlosen Apartments in dubiosen Orten wie Eppelheim oder die 200 Euro monatliche Kaltmiete für den Platz unter dem Küchentisch deines geschäftssinnigen Kommilitonen.
Diese Komplikationen zum Semesterstart sind dafür verantwortlich, dass du mitten in der Nacht das dringende Bedürfnis hast, kurzfristig von Jura zu Philosophie zu wechseln oder mit deinem Zelt unter die alte Brücke zu ziehen – da gibt es immerhin Schlossblick. Bleibt nur die Frage: Woran würdest du dich zurückerinnern, gäbe es dieses Chaos nicht? Vorlesungen und Tutorien werden sowohl in der Realität als auch in Erinnerung erst durch Shots im Mel’s und Uni-Selbsthilfegruppen ertragbar.
Von Nikolai Glasow
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.