Fälschungen, Diebstahl, Einbruch: Systematisch werden russische Bücher aus Bibliotheken geklaut. Die Motive sind bisher ungeklärt
April 2022. Drei russische Bücher werden aus der lettischen Nationalbibliothek entwendet, ein georgischer Staatsbürger wird wegen Diebstahl festgenommen und zu sechs Monaten Haft verklagt. Im gleichen Monat wurden acht Bücher im Wert von 158.000 Euro, darunter Erstausgaben von Alexander Puschkin und Nikolai Gogol, aus der Universitätsbibliothek Tartu in Estland durch Fälschungen ersetzt. Zwei Männer, die im Nachhinein zu den Hauptverdächtigen erklärt wurden, haben die besagten Werke vier Monate vor Feststellung des Diebstahls aufgrund von Forschungszwecken eingesehen. Mai 2022. In Litauen wird der Diebstahl von 17 weiteren russischen Bücher aus der Universitätsbibliothek Vilnius festgestellt.
Der Wert dieser beträgt insgesamt rund 440.000 Euro. Oktober 2023. Die Universitätsbibliothek Warschau stellt fest, dass auch ihnen 79 Bücher entwendet wurden. Die Originale wurden durch leere Umschläge oder sorgfältig angefertigte Fälschungen ersetzt. Die Bücher haben einen Gesamtwert von bis zu einer Million Euro – der Verlust trifft die Warschauer Universitätsbibliothek schwer. Die entwendeten Werke haben über zwei Weltkriege und mehrere Phasen politischer Unsicherheit hinweg sicher verwahrt werden können und waren somit von zentraler Bedeutung für die Universitätsbibliothek.
„Die Bücher stammen hauptsächlich von Autoren nationaler Bedeutung“
Der Großteil der gestohlenen Bücher sind Erstausgaben mit hohem historischem Wert. Die Werke wurden im Laufe des Jahres 2022 entwendet, festgestellt wurde der Diebstahl erst im Oktober dieses Jahres. Der Vorfall führt zur Entlassung der Direktorin der Universitätsbibliothek Anna Wolodko. Sie habe trotz Warnungen der polnischen Autoritäten nicht die nötigen Maßnahmen zur Vermeidung eines Diebstahls ergriffen. Diese verwiesen auf einen Verdächtigen im Falle der Diebstähle in Vilnius. Den Autoritäten der Warschauer Universitätsbibliothek zufolge besuchte dieselbe Person ihre Lesesäle zweimal im November 2022. Im gleichen Monat, in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober, wird in der Bibliothèque universitaire des langues et civilisations (BULAC) eingebrochen.
Gestohlen werden acht Bücher, jedoch weder wertvolle Erstausgaben, noch Werke von Puschkin oder Gogol, wie eine Pressemitteilung der BULAC berichtet. Drei georgische Staatsbürger:innen sind im Rahmen einer laufenden Ermittlung der Brigade de répression du banditisme (BRB) unter Verdacht des Diebstahls festgenommen worden.Aus den Seriendiebstählen lassen sich einige Charakteristika der visierten Bücher ableiten: sie sind in russischer Sprache verfasst, stammen aus dem 19. Jahrhundert, haben im Regelfall einen gewissen kulturellen Wert, werden durch leere Umschläge oder Fälschungen ersetzt und stammen hauptsächlich von Autoren nationaler Bedeutung wie dem Nationaldichter Puschkin oder Gogol.
Beide Schriftsteller prägten die russische Gesellschaft und Kultur nachhaltig. Insbesondere Puschkin, der als ursprünglicher Schöpfer der russischen Literatursprache gilt, ist von zentraler Bedeutung für die russische Kultur und nationale Identität.
„Heimbringen von kulturellem Erbe ist kein neues Phänomen“
Der Verdacht, dass es sich um eine aus Russland stammende kriminelle Organisation handelt, besteht und wird in den Ermittlungen zu den unterschiedlichen Diebstählen verfolgt. Im Falle der Warschauer Ermittlung wurden Screenshots von Auktionen des russischen Auktionshauses „Litfond“ entdeckt, bei denen Bücher, die mit dem Warschauer Bibliotheksstempel und Katalognummern versehen waren, im Dezember 2022 verkauft wurden. Diese erreichten Preise bis zu 30.500 Euro. Der hochkochende Nationalismus innerhalb Russlands seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der einen wachsenden Markt für wertvolle Bücher russischer Nationalschriftsteller geschaffen hat, wäre ein möglicher Erklärungsansatz für die Seriendiebstähle.
Jedoch gibt es Anlass dazu, die Möglichkeit einer tiefgreifenderen ideologischen Motivation nicht komplett auszuschließen. Das Zurückholen beziehungsweise Heimbringen von kulturellem und historischem Erbe ist kein neues Phänomen im Kontext des russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Im Oktober 2022, bei den Kämpfen um die ukrainische Stadt Cherson, wurden die Gebeine des russischen Feldmarschalls Grigorij Potemkin nach Russland abtransportiert. Wolodomyr Saldo, der von Russland eingesetzte Gouverneur Chersons, teilte den Diebstahl öffentlich im russischen Fernsehen mit. Potemkin, der unter anderem Liebhaber der Zarin Katharina die Große war, ist eine zentrale historische Figur der russischen Imperialgeschichte des 18. Jahrhunderts.
Auch Statuen der Feldherrn Suworow und Uschakow sowie des Sowjetgenerals Magelow, die weitere Helden des russischen Imperiums und der Sowjetunion sind, wurden nach Russland abtransportiert. Ebenso wurde das Regionalarchiv Chersons geplündert – betroffen sind hauptsächlich Dokumente aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Zu bedenken ist, dass man sich hier im Bereich der Spekulation befindet. Aufgrund der momentanen Informationslage ist nicht endgültig festzustellen, was der ursprüngliche Auslöser für die Diebstähle ist. Weitere Universitätsbibliotheken, die ähnliche Bücher, wie die entwendeten verwahren, werden in Zukunft wahrscheinlich vorsichtiger mit diesen umgehen und ihre Sicherheitsvorkehrungen vielleicht nochmal überdenken.
Von Claire Meyers
...studiert Politikwissenschaften und Geschichte und schreibt seit anfangs des Wintersemester 2023/24 für den ruprecht. Besonders interessiert sie sich für Politik, schreibt aber auch gerne über Heidelberg oder kulturelle und gesellschaftliche Themen.