Jedes Jahr erinnern Heidelberger:innen an die Opfer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Das Aufbegehren gegen die Nazi-Herrschaft prägt das Stadtbild noch heute
Wir sind die Moorsoldaten / Und ziehen mit dem Spaten / Ins Moor“, erklingt es am 1. November 2023 auf dem Heidelberger Bergfriedhof. Nicht inbrünstig, eher verhalten und nachdenklich, singen über 90 Menschen die bekannte Widerstandshymne. Begleitet wird das Lied, das auf Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor zurückgeht, auf dem Akkordeon. Dazu schwenken die Singenden ihre Fahnen, unter ihnen Vertreter:innen der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), der Antifaschistischen Initiative Heidelberg, der Industriegewerkschaft (IG) Metall, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Partei die Linke.
Eine unbeteiligte Friedhofsbesucherin kann sich einen Kommentar nicht verkneifen: „Halleluja“, sagt sie im Vorbeigehen.Jedes Jahr am 1. November treffen sich Menschen aus dem linken Spektrum Heidelbergs am Ehrengrab für die Opfer der nationalsozialistischen Justiz, um eine Gedenkfeier für die hier begrabenen Widerstandskämpfer:innen abzuhalten – so auch an Allerheiligen 2023. Eingeladen hatten die VVN-BdA Heidelberg und der Deutsche Gewerkschaftsbund Heidelberg/Rhein-Neckar. Silke Makowski, Sprecherin der VVN-BdA, führte als Moderatorin durch die Veranstaltung. „Gerade in Zeiten, in denen Rassismus, Antisemitismus und rechte Hetze in allen Bereichen der Gesellschaft wieder zunehmen, ist mutiger Antifaschismus notwendig“, begründet sie ihr Engagement.
Das Novembergedenken auf dem Bergfriedhof ist ein Beispiel dafür, wie in Heidelberg noch heute an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus erinnert wird. Die bekannteste südwestdeutsche Widerstandsgruppe ist die kommunistische Lechleiter-Gruppe, benannt nach ihrem Anführer Georg Lechleiter, die 1941 die Untergrundzeitung „Der Vorbote“ herausgab. Sie war zwar vor allem in der Industrie- und Arbeiterstadt Mannheim aktiv, hatte jedoch auch drei Mitglieder aus der benachbarten Universitätsstadt. Die Heidelberger Mitglieder der Widerstandgruppe waren der Kommunist und Eisendreher Albert Fritz; die Sozialdemokratin Käthe Seitz, die Lechleiters Texte für den Druck der Untergrundzeitung auf Matrizen tippte; und ihr Ehemann, der parteilose Krankenpfleger Alfred Seitz. Wie 16 weitere Gruppenmitglieder wurden sie nach Schauprozessen 1942 und 1943 in Stuttgart hingerichtet. Viele der Leichen übergab man anschließend der Anatomie der Universität Heidelberg.
Erst 1950 fanden sie eine würdige Ruhestätte. Damals richtete die Stadt Heidelberg im Austausch mit der Universität und der VVN das Ehrengrab auf dem Bergfriedhof ein, in dem sich heute die sterblichen Überreste von 27 Opfern der NS-Justiz befinden. Unter ihnen sind auch vier Heidelberger: die drei Mitglieder der Lechleiter-Gruppe und der oppositionelle Schlosser und Kraftfahrer Heinrich Fehrentz. 1951 brachte die Stadt zudem eine Gedenktafel an. Seitdem richtet die VVN – ein kommunistisch geprägter, 1971 zum „Bund der Antifaschisten“ erweiterter Opferverband – hier ihre jährlichen Gedenkfeiern aus. Auch abseits des Bergfriedhofs ist der Heidelberger Arbeiter:innenwiderstand noch heute sichtbar. Wie aus Sitzungsprotokollen im Stadtarchiv hervorgeht, beschloss der Stadtrat bereits 1946, eine Straße nach Albert Fritz zu benennen. Den Antrag dazu hatte die Kommunistische Partei direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt. 1974 sprachen sich zudem der Hauptausschuss des Stadtrats und die Deutsche Kommunistische Partei dafür aus, Heinrich Fehrentz und die Eheleute Seitz mit Straßennamen zu würdigen.So kommt es, dass es auch heute noch eine Albert-Fritz-Straße in Kirchheim, eine Fehrentzstraße in Bergheim und eine Seitzstraße in Neuenheim gibt.
Für alle drei Straßen ließ die VVN-BdA zwischen 2012 und 2016 Legendenschilder direkt unter den jeweiligen Straßenschildern anbringen, die knapp über das Leben der Geehrten informieren. „So möchten wir die Würdigung durch Straßenschilder wirksam machen, denn viele Passant:innen kennen die Namen und die Biografien nicht“, erklärt Silke Makowski.Außerdem ist die Erinnerung an den Widerstand durch Stolpersteine im Heidelberger Stadtbild verankert. Die Stadtverwaltung lehnte dieses Vorhaben zwar zunächst ab. Mit der Zustimmung der Jüdischen Kultusgemeinde und der Unterstützung des Stadtrats konnte die 2008 gegründete Initiative Stolpersteine Heidelberg 2010 dennoch mit der Verlegung beginnen. Neben vielen jüdischen Opfern waren bis 2012 auch Albert Fritz, Käthe Seitz, Alfred Seitz und Heinrich Fehrentz mit Stolpersteinen bedacht.
Durch eine Initiative von Tim Tugendhat, gegenwärtig stellvertretender Kreisvorsitzender der SPD Heidelberg, findet seit einigen Jahren jeden Herbst ein gemeinschaftliches Stolpersteine-Putzen statt, zuletzt am 26. November 2023. „Wie schon in den 1920er-Jahren haben wir in den 2020er-Jahren wieder instabile Demokratien in Europa. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Würdigung seiner Opfer können dabei helfen, dass die 1930er-Jahre sich in den 2030er-Jahren nicht wiederholen“, erklärt der Lokalpolitiker.
Von Linus Lanfermann-Baumann
...studiert Geschichte im Master und schreibt seit 2022 für den ruprecht. Er interessiert sich für Vergangenes und Gegenwärtiges im Kino, in der Literatur, in Heidelberg und in den USA.
...studiert im Global History im Master of Arts und ist seit Oktober 2023 beim ruprecht. Er interessiert sich sowohl für (stadt-)historische als auch gesellschaftliche Themen. Wenn er nicht gerade über seinen nächsten ruprecht-Artikel nachdenkt, unterstützt er die Bildredaktion.