Ein Student erschießt 14 Menschen und verletzt 25 weitere: Wie Prag versucht, den schlimmsten Schusswaffenangriff in der Geschichte Tschechiens aufzuarbeiten
Mehrere tausend Menschen schreiten am 4. Januar schweigend durch die Altstadt von Prag. Anschließend bilden sie eine mehrreihige Menschenkette. Sie halten sich an Armen und Händen und umarmen symbolisch das Hauptgebäude der Philosophischen Fakultät. 14 Minuten lang läuten die Glocken der Stadt – je eine Minute für eines der Todesopfer. In dem neoklassizistischen Gebäude unweit der Moldau hatte ein Student der Karls-Universität zwei Wochen zuvor 14 Menschen erschossen, 25 weitere verletzt und anschließend Suizid begangen. „Wir versuchen immer noch, passende Worte zu finden“, konstatiert die Dekanin der Fakultät. Die Tat erregt besonders in Heidelberg Aufmerksamkeit und weckt Gedanken an den 24. Januar 2022. An diesem Tag tötete ein paranoidschizophrener 18-Jähriger eine Heidelberger Studentin sowie sich selbst und verletzte viele weitere.
Im Nachgang des tragischen Ereignisses werden, wie 2022 in Heidelberg, nun auch in Prag Stimmen laut, die das Kommunikationsverhalten von Polizei und Universität kritisieren. Bereits vor der Tat fahndeten die Behörden nach dem jungen Mann. Er hatte am Morgen des Amoklaufs seinen Vater erschossen. Anhand des Stundenplans des 24-Jährigen wurde ein anderes Gebäude der Fakultät vollständig evakuiert. Zum späteren Tatort wurde jedoch nur eine Streife mit einem Bild des Mannes geschickt. Der Leiter der polizeiinternen Kontrollbehörde gestand im Nachhinein ein: „In Zukunft lässt sich in ähnlichen Fällen nur anraten, eine bessere Krisenkommunikation mit den betroffenen Institutionen zu wählen.“ Eine zeitnahe Warnung der Öffentlichkeit in Verbindung mit konkreten Handlungsanweisungen gab es im Verlauf des Massakers nicht. Lubomír Zaorálek, ehemaliger Außenminister und Dozent, hielt zur Tatzeit einen Vortrag im Stockwerk direkt unter der Schießerei. Das dumpfe Knallen habe er für eine Weihnachtsfeier gehalten. Weder Warnapps noch Informationsverbreitung über standortbezogene SMS wurden genutzt.
Die meisten erfuhren über soziale Netzwerke von den Ereignissen. Ein Heidelberger Erasmus-Student schildert: „Es war ähnlich wie damals in Heidelberg. Innerhalb von 30 Minuten erreichten uns unzählige Nachrichten über verschiedene Gruppenchats mit sehr widersprüchlichen Informationen und Gerüchten.“ Eine offizielle Mail der Universität wurde erst am nächsten Morgen vom Erasmus-Büro an die internationalen Studierenden weitergeleitet. Trotz dieser Kritikpunkte ist die Resonanz auf die Nachsorgebemühungen der ältesten Universität Mitteleuropas durchweg positiv. Alle Universitätsveranstaltungen wurden für den Tag nach der Tat abgesagt. Der Lehrbetrieb an der Philosophischen Fakultät ist für das restliche Semester eingestellt. Stattdessen wurde im Januar im Rahmen eines „Monats der Fakultät“ Raum für Trauer, Solidarität und die Erneuerung der Fakultätsgemeinschaft geschaffen.
Die Rektorin der Uni versucht, Mut zu verbreiten: „Unsere akademische Gemeinschaft ist zutiefst traurig, aber wir sind nicht gebrochen“. Unbegreiflich wird das Geschehen für viele dennoch bleiben. Vergeblich suchten die Ermittler nach einem Motiv des Massenmörders. Die Erschießung eines jungen Familienvaters und seiner zwei Monate alten Tochter sechs Tage vor dem Amoklauf konnte ihm ebenfalls zugeordnet werden. Für anhaltende Kritik sorgt, dass der Täter – wie auch im Fall Heidelberg – seine zahlreichen Schusswaffen legal erwerben konnte. Entsprechend angeregt wird die gesellschaftliche Debatte im Nachgang der Tragödie auch weiterhin fortgeführt.
Von Robert Trenkmann
Anmerkung der Redaktion: Wenn ihr selbst nicht mehr weiterwisst oder jemanden kennt, der Unterstützung benötigt, wendet euch bitte an die Psychosoziale Beratung für Studierende des Studierendenwerks Heidelberg (www.stw.uni-heidelberg.de/de/pbs) oder an die anonyme Telefonseelsorge (rund um die Uhr zu erreichen unter 116 123)
...leitet Weltweit und studiert nebenbei Geographie in Kombination mit Politikwissenschaft.
Interessenschwerpunkte: ferne Länder, Tagespolitik, Botanik & Sport.
Nicolaus Niebylski studiert Biowissenschaften. Beim ruprecht ist er seit dem Sommersemester 2017 tätig – meist als Fotograf. Er bevorzugt Reportagefotografie und schreibt über Entwicklungen in Gesellschaft, Kunst und Technik. Seit November 2022 leitet er das Ressort Heidelberg. Zuvor war er, beginnend 2019, für die Ressorts Studentisches Leben, PR & Social Media und die Letzte zuständig, die Satireseite des ruprecht.