Der Film „All of Us Strangers“ verbindet subtil und eindringlich Großstadteinsamkeit mit schmerzhaften Kindheitserinnerungen
Wer Paul Mescal und Andrew Scott für einem Film als Liebespaar castet, der hat sicherlich keine Schwierigkeiten, daraus einen der meistantizipierten Filme des Jahres zu machen. Den hohen Erwartungen, die damit einhergehen, gerecht zu werden, ist die größere Herausforderung. Im vergangenen Jahr überzeugten Filme wie „Barbie“ und „Oppenheimer“ die Massen mit Farbe und Spektakel, im Gegenzug schafft „All of Us Strangers“ mindestens genauso viel Emotion durch seine stillen Momente. Während man den Drehbuchautor Adam (Andrew Scott) bei seinem eher einsamen Leben zuschaut, wird man in die düstere Schwere seines Alltags hineingezogen.
Zwischen Londoner Hochhäusern, der Anonymität des Großstadtlebens und Whiskey wirkt Adams Leben ziemlich klein und unbedeutend, fast schon unpersönlich. Bis schließlich Harry (Paul Mescal), der der einzige weitere Bewohner des Hochhauses zu sein scheint, eines Abends betrunken vor seiner Tür steht. Zunächst ist man befremdet von seinem Charakter, so auch Adam, der ihm eine klare Abfuhr erteilt. Während sich Harry und Adam schließlich doch zunächst physisch, später auch emotional näherkommen, verfolgen wir Adam bei einem Wettrennen gegen seine Vergangenheit.Sobald Adam sein altes Zuhause besucht, wird „All of Us Strangers“ zur Geisterstory.
Während man sich anfangs über das Casting seiner Eltern, die ihn warmen Gemüts willkommen heißen, wundert – sie scheinen im gleichen Alter wie Adam zu sein – wird schnell klar, dass mehr dahintersteckt: Adams Eltern starben bei einem Autounfall, als er elf Jahre alt war. Während Adam sich all die Fragen stellt, die im Vergehen der Zeit unbeantwortet blieben, kommen sich Harry und Adam immer näher und lernen sich zu lieben. So wie Adam in seinem Apartment abgeschirmt vom Rest der Welt lebt, fühlt er sich auch sonst in seinem Leben als Beobachter von außen – und das schon seit seiner Kindheit: Sein Vater spricht von Zeiten, in denen er Adam in seinem Zimmer weinen gehört hat, ihn jedoch nie trösten kam. Auch diese Erfahrung verbindet Harry und Adam. „I’ve always felt like a stranger in my own family“, sagt Harry an einer Stelle.
Während die beiden Charaktere sich also fremd in der Welt, anfangs zueinander und auch in ihren Familien fühlen, ist „All of Us Strangers“ dennoch ein Film über Nähe. Die verlorene Nähe zu den Eltern, an die Adam sich klammert, und die neue Nähe zu Harry. Die Sehnsucht nach seiner Kindheit, seinem Zuhause und den ungelösten inneren und äußeren Konflikten hinterlässt Spuren: „It’s okay, it happened a long time ago“ – „Yeah, I don’t think that matters”. Adam ist unfähig loszulassen, seine Kindheit, über die er schreiben will, wartet an jeder Ecke, er kehrt also immer wieder in sein Elternhaus zurück, nur um festzustellen, dass auch die Antworten, die er seit ihrem Tod sucht, ihn nicht vom Vergangenen befreien können.
„All of Us Strangers“ erhebt sich über die visuellen Eindrücke anderer Filme und setzt auf die Kraft sanfterer Bilder, die durch subtile Nuancen und die eindringliche Performance der Darsteller eine außergewöhnliche emotionale Intensität erreicht. In einem beeindruckenden Balanceakt zwischen Verlust und Liebe, Fremdheit und Nähe, verleiht der Film der menschlichen Sehnsucht nach Verbindung eine zeitlose Dimension. „All of Us Strangers“ kommt am 8. Februar in die Kinos.
Von Nicola von Randenborgh
Nicola van Randenborgh studiert Philosophie & VWL und schreibt seit dem Wintersemester 23/24 für den ruprecht - Und das am liebsten über das, was sie oder die Welt eben gerade bewegt.