Hagwons statt Hogwarts: Nachhilfeschulen dominieren das Leben junger Menschen in Südkorea. Über eine Gesellschaft, die sich nach dem Stundenplan der Schüler:innen richtet
Zehn Prozent des Einkommens. Rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. So viel geben südkoreanische Familien durchschnittlich für private Nachhilfe ihrer Kinder aus. Daten des koreanischen Statistischen Amtes zufolge überstiegen die Ausgaben für Nachhilfeunterricht im ersten Quartal 2023 sogar die Kosten für Lebensmittel und Wohnen.
Im PISA-Test belegte das Land 2023 den fünften Platz und ist damit eines der bildungsstärksten Länder weltweit. Deutschland befindet sich auf Rang 23. Laut des südkoreanischen Bildungsministeriums besuchten im Jahr 2017 rund 70 Prozent der 18 bis 21-Jährigen eine Universität oder ein College. Bekannt als „SKY“, sind die drei anerkanntesten Universitäten, um die der stärkste Konkurrenzkampf herrscht, die Seoul National University, die Korea University und die Yonsei University.
Von klein auf lernen Kinder, dass sie hart arbeiten müssen, um an einer guten Universität angenommen zu werden und anschließend eine sichere Karriere zu haben. Für eine Universitätszulassung müssen die Schüler:innen allerdings den College Scholastic Ability Test, kurz CSAT, in ihrem letzten Oberschuljahr schreiben. Der Test wird vom Bildungsministerium Südkoreas erstellt und dauert über acht Stunden. Am Tag des Tests öffnen Börsen, Ämter und viele Unternehmen eine Stunde später, um Verkehr zu vermeiden. Während der Höraufgabe im Englischen wird der Flugverkehr kurzzeitig eingestellt. Sollten Schüler:innen zu spät dran sein, gibt es auch hierfür eine Lösung: „Es ist komplett normal, von der Polizei zur Schule gebracht zu werden, um pünktlich zu sein“, so Kim Suhyeon, Studentin des Kreativen Schreibens und der Soziologie an der Chung Ang Universität in Seoul.
Da nur die Besten einen Platz an den SKY-Universitäten bekommen, herrscht enormes Konkurrenzdenken. Daher nehmen viele Schüler:innen seit der Grundschule private Nachhilfe in diversen Fächern. Am beliebtesten dafür sind private Nachhilfeakademien, so genannte Hagwons, welche die Kinder und Jugendlichen nach der Schule, am Wochenende und in den Ferien besuchen. Die Akademien wiederholen den gelernten Stoff, bieten ergänzenden Unterricht an und bereiten sich auf Aufnahmeprüfungen von Schulen und Universitäten vor. Der Marktwert von Megastudy, eine von Koreas größten Hagwons, wurde im Juni 2023 auf circa 458 Millionen Euro geschätzt.
Das System der privaten Nachhilfe fördert jedoch die Ungleichheit in der Gesellschaft. Die besten Hagwons sind teuer und zumeist in Großstädten, während die besten und ebenfalls teuren Privatschulen in Seoul sitzen. Finanziell schwächere Familien oder solche, die auf dem Land leben, werden dadurch benachteiligt.
Denn neben dem CSAT, welcher 60 Prozent für die Universitätszulassung zählt, hängen die verbleibenden 40 Prozent von den Schulzeugnissen ab, bei denen vor allem der Name der Schule entscheidend ist. Darüber hinaus beachten die Universitäten ehrenamtliche Erfahrungen, außerschulische Aktivitäten, Empfehlungsschreiben, Schul-*auszeichnungen und Portfolios.
Als alternativen Bildungsweg können Schüler:innen eine Berufsschule besuchen und das Vocational High School Certificate erhalten, mit dem sie anschließend ein College besuchen und Lizenzen oder Diplome erlangen können. Jedoch wird der Status einer Person in der koreanischen Gesellschaft durch ihren Bildungsgrad bestimmt. Bildung wird über Berufserfahrung gestellt und die Aufstiegschancen für Menschen ohne Universitätsabschluss sind gering.
Viele junge Menschen haben genug von diesem Leistungsdruck. Auf die Frage, ob sich in naher Zukunft etwas ändern wird, zeigt sich Kim jedoch pessimistisch: „Viele Studierende sind mit ihrem Studium beschäftigt und suchen nach Praktika. Sie versuchen weiterhin, sich eine Karriere aufzubauen in dem System, das eigentlich so schädlich ist.“
Südkoreanischer Schul- und Unibildung wird nachgesagt, viel auf Frontalunterricht und das Auswendiglernen von Fakten zu setzen. Eine anonyme Umfrage der Autorin unter Studierenden in Südkorea zeigt allerdings, dass die Lehrmethoden wie auch in Deutschland von Fach und Dozierenden abhängig sind. Auch der Arbeitsaufwand der Befragten variiert. Jedoch betonten viele den von der Gesellschaf kommenden Leistungsdruck, unter dem sie stehen. Gleichzeitig erfüllt sie aber das Erreichen der, ebenfalls von außen, gesetzten Ziele mit dem positiven Anreiz, weiterzumachen. In einem leistungsorientierten System mache es beinahe süchtig, diese Leistung zu erfüllen, so eine Befragte.
Jedoch führt dieser Druck nicht selten zu mentalen Problemen wie Depressionen und Burn-out während der Schulzeit, des Studiums oder der späteren Karriere. Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass Selbstmord im Jahr 2021 die Hauptursache für die Todesfälle der Südkoreaner:innen im Alter zwischen 10 bis 39 Jahren war. Der enorme Leistungsdruck, der Hunger nach Erfolg und das Konkurrenzdenken der Gesellschaft können direkt damit in Zusammenhang gebracht werden. Es wird deutlich, dass ein Wandel des Bildungssystems mit einer neuen Definition von Erfolg einhergehen muss. Junge Menschen sollten Zeit haben, ihre eigenen Ziele herauszufinden und somit eigenständig die Motivation entwickeln, auf ihre Definition eines erfolgreichen Lebens hinzuarbeiten. Ob sich an dem Bildungssystem tatsächlich etwas ändert, ist fraglich. Es wäre aber, vor allem den jungen Menschen zu liebe, zu hoffen.
Von Lucie Bähre
...studiert Politikwissenschaften und Germanistik im Kulturvergleich. Sie kann sich für alle Themengebiete begeistern, interessiert sich aber am meisten für den gesellschaftspolitischen Bereich. Seit 2021 schreibt sie für den ruprecht und leitet seit 2022 Seite 1-3.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.