Das Handy immer griffbereit, die Instagram-Story schon abgedreht. Diese vermeintlich heile Welt in den sozialen Medien kann zum Problem für Zuschauende werden. Wie Heidelberger Influencer:innen zwischen Unistress und Alltag nebenbei Videos produzieren
Um 5:00 Uhr: Aufstehen, 6:00 Uhr: Gym, 8:00 Uhr: Protein Bowl, 8:30 Uhr: Karteikarten, 10:00 Uhr: Vorlesungen, 16:00 Uhr: Bib, 18:00 Uhr: Streichinstrument spielen, 19:00 Uhr: Kochen und Meal-Prepping, 20:00 Uhr: weitere Lernsession. 22:00 Uhr: Content planen. Der scheinbar perfekte Tagesablauf für ambitionierte Studierende.
Online begegnet jungen Menschen eine Masse an strukturierten, ästhetischen und disziplinierten daily routines, die für den Normalo erstmal unerreichbar scheinen. Aber ist es wirklich so erstrebenswert, einen minutengenau durchgetakteten und täglich gleich ablaufenden Tag vor sich zu haben?
Auch unter Heidelberger Studierenden gibt es Content Creator:innen, die ihr Leben in den Sozialen Medien bis ins Detail darstellen. Oft werden dabei eher die produktiven und erfolgreichen Momente abgelichtet. Das kann Zuschauer:innen unter Druck setzen, ebenso selbstoptimierend ihren Alltag zu bestreiten.
Wir sprechen mit Laura Schön (24), die betont, wie normal es ist, auch mal einen schlechten Tag zu haben und ein zuvor gesetztes Ziel nicht zu erreichen. Laura ist Jurastudentin, Triathletin und hat vor Kurzem begonnen, ihre Follower:innen mit zu Trainingseinheiten und auch in die Bibliothek zu nehmen. Sie zeigt, wie sie es schafft, Studium und Training zu vereinbaren. „Manchmal ist es echt schwer, beides zu kombinieren, ich habe da noch nicht das Patentrezept gefunden. Ein guter Zeitplan hilft mir auf jeden Fall.“ Auch Social Media nimmt Zeit in Lauras Alltag ein, doch es macht ihr Spaß, für andere Content zu produzieren. Sie selbst möchte sich nicht mit anderen vergleichen, sondern schätzt Inspiration und Motivation durch Videos anderer Sportler:innen.
Gerade ein Jurastudium ist kompetitiv und nimmt viel Zeit in Anspruch – dabei scheint es manchmal überwältigend, auch seinen Leidenschaften und Hobbys zu folgen. Laura bewältigt beides zugleich: „Bei lockeren Läufen höre ich Jura-Podcasts, aber bei anstrengenden Intervalltrainings kann ich mich nicht auf beides gleichzeitig konzentrieren.“
Der Druck unter Heidelberger Studierenden ist oft schon groß genug
Doch wie gelingt überhaupt der erste Schritt? „Traut euch anzufangen!“, ist ihr Ratschlag an alle, die überlegen, mit dem Hochladen von persönlichen Inhalten zu beginnen. Ihr Umfeld unterstützt sie bei ihrer neuen Passion, mit Kritik und Anfeindungen wird sie bisher nicht konfrontiert.
Ihre Ziele für das kommende halbe Jahr sind die 10.000 Follower:innen zu knacken und möglicherweise die erste Kooperation mit einer Sportmodemarke.
Laura ist gerade im zehnten Semester und plant, einen Marathon zu laufen und in den nächsten Semestern ihr Staatsexamen zu schreiben. „Momentan gefällt es mir, etwas Kreatives nebenher zu machen. Das Jurastudium kann sehr trocken sein, dann ist es gut, einen Ausgleich zu haben. Auch das Schneiden der Videos macht mir Spaß.“
Ein weiterer Kommilitone mit Internetpräsenz ist Joris. Er wurde durch das Youtube-Survival-Format „7 vs. Wild“ von Fritz Meinecke bekannt. Zuvor als normaler Volkswirtschaftsstudent in der Universität zu finden, wurde er über Nacht populär und konnte sich letztendlich den zweiten Platz in der beliebten Show sichern. Seine Konkurrenz bestand aus medial bereits präsenten Personen. Im Zuge seiner Teilnahme durch eine „Wildcard“-Vergabe in der 2. Staffel verbrachte er im September 2022 sieben Tage alleine auf einer verlassenen Insel im Süden Panamas. Ausgerüstet mit drei Gegenständen: einer Machete, einem Feuerstahl, einem Gefäß mit Deckel sowie dem, was er am Körper trug, überstand er die Woche unversehrt. Durch die ständige eigene Kamerabegleitung und Alleinunterhaltung stellte er sich unbearbeitet zur Schau und bot viel Fläche für Begeisterung, aber auch für Angriff.
Seine Social-Media-Präsenz vergrößerte sich sehr plötzlich: „Ich stand nie gerne in der Öffentlichkeit, hatte aber seit der Kindheit eine Liste mit Dingen, die ich bis zum Tod erlebt haben möchte. Darunter: Zeit alleine im Dschungel verbringen, Leben mit indigenen Völkern im Dschungel, erste Aufnahmen eines sehr speziellen Reptils. Im Februar 2025 habe ich voraussichtlich alle meine Lebensziele der Liste erreicht.“
Seine Inhalte auf den sozialen Plattformen sehen eher wenig nach typischem Studierendenalltag aus: „Ich mache ausschließlich abenteuerliche Dinge. Ansonsten ist mein Content bunt gemischt. Von Giftschlangensuchen über Leben mit Kannibalen, Besteigen von Vulkanen bis hin zum Anmieten von ganzen Höhlensystemen war bisher alles dabei.“
Für Joris gilt es also, Studium, Social Media und längere Reisen unter einen Hut zu bekommen. „Soziale Medien sind meine Haupteinnahmequelle“, sagt Joris, „Eine akademische ‚Pflicht‘ habe ich noch nie verspürt. Natürlich leidet das Studium darunter, dass ich viel im Ausland unterwegs bin. Das war aber auch schon vor Social Media der Fall.“
„Nächstes Jahr habe ich voraussichtlich alle meine Lebensziele erreicht“
Während des Zeitraums der Dreharbeiten und der Ausstrahlung besuchte er nur wenige Vorlesungen und ist dadurch von der Regelstudienzeit weit entfernt. Doch bereuen tut er das nicht.
Joris sagt, besonders die Zusammenarbeit mit Firmen und großen Influencer:innen habe ihn zur Einsicht verholfen, dass er das Studium in Heidelberg zwar nicht missen will, außerhalb der Uni aber erfolgversprechendere Perspektiven erwarte.
Er möchte sein Studium dieses Semester mit der Abgabe seiner Bachelorarbeit beenden und mindestens bis April nächsten Jahres mit Social Media selbstständig bleiben.
Dabei ist ihm gerade die Freiheit dieser Tätigkeit wichtig: „Social Media ist keine Verpflichtung. Mich macht es glücklich, wenn ich Leuten die Welt aus einer neuen Perspektive zeigen kann. Das war auch schon so bevor ich ‚Influencer‘ war.“
Plötzliche Bekanntheit kann überwältigend sein. Bei seiner Zeit bei „7 vs. Wild“ erntete Joris auch negative Kritik. Wie sieht es generell mit Vorurteilen und Missverständnissen von Freund:innen und Familie oder der Online Community aus? „Ich behaupte, dass ich als Outdoor-Creator mit weniger Vorurteilen zu kämpfen habe als Leute mit anderen Content Schwerpunkten, aber die Klassiker von ‚Ihr verdient zu viel‘ bis hin zu ‚Das ist doch keine Arbeit‘ begegnen auch mir. Teilweise sicherlich zurecht.“
Im Gespräch mit den beiden Influencer:innen wird deutlich, wie reflektiert und bewusst sie mit Social Media umgehen. Generell kann man auf vielen Plattformen einen Trend zu mehr „Realness“ beobachten. Auch schwierige Zeiten und Probleme werden thematisiert. Es ist nicht immer alles so toll, wie suggeriert wird, sondern teilweise wirklich schwierig, Studium, Social Media und andere Interessen gleichermaßen zu bedienen. Damit weichen sie vom klassischen Influencer-Klischee ab.
In einer Welt der Selbstinszenierung geht Echtheit schnell verloren
Online erwartet uns eine gewaltige Masse von Posts voller Perfektion und Prestige: Gerade in Verbindung mit dem Studium an einer renommierten Universität lässt sich im Netz eine Persönlichkeit schaffen, die Creator:innen gestalten können, wie es ihnen beliebt. Ein Lifestyle, der sich gut präsentieren und kommerzialisieren lässt. Besonders schwierig wird es, wenn die Motivation zur Selbstoptimierung ein Zwang wird: Stets repetitive Routinen, der Drang, etwas erleben zu müssen, oder das Internet als einziger sozialer Kontakt und studentischer Austausch.
Der Gedanke, mit der filmischen Darstellung seines Alltags andere zu motivieren und zu beeinflussen, ist durchaus inspirierend. Als Zuschauer:in kann man sich einiges abschauen, implementieren oder lernen.
Es könnte jedoch die Frage aufkommen, wieso man selbst nicht diesen perfekten Tagesablauf hat. Wieso man nicht so viel lernt oder so gute Noten schreibt. Wieso man nicht nur Abenteuer und Erfolgserlebnisse hat und ständig spannende Inhalte teilen kann. Was macht man selbst falsch? Der Druck unter Heidelberger Studierenden ist auch ohne Social Media oft schon groß genug. Langwierig kann sowohl der perfektionierte Lebensstil als auch das ständige Konsumieren unausgeglichener Inhalte zu psychischer Belastung führen.
Allein das Bewusstsein dafür, dass es sich bei Reels, TikToks und Co. um selektive Selbstdarstellung handelt, hilft. Offensichtlich stellt man als Person des öffentlichen Lebens nicht jeden Misserfolg oder Schicksalsschlag ins Internet. Es ist selbstverständlich, dass man sich eher von seiner erfolgreichen Seite zeigt. Werden jedoch nur die glücklichen Momente veröffentlicht, können Follower:innen schnell vergessen, dass nicht immer alles perfekt verläuft. Man besteht nicht jede Klausur, schafft es nicht, jeden Tag Sport zu machen oder ausgewogen zu essen. Viel wichtiger ist es, zu begreifen, dass an einer exzellenten Universität nicht alles exzellent sein muss und Perfektion immer ein unerreichbarer Zustand bleiben wird.
Solveig Harder, Louisa Büttner & Annika Bacdorf
haben zusammen 2704 Follower:innen auf Instagram
...studiert Mathematik im Bachelor und schreibt seit Mai 2023 für den ruprecht. Sie widmet sich besonders gerne gesellschaftlichen Themen, die für Studierende relevant sind.
…studiert Politikwissenschaft und Germanistik. Sie wirkt seit Herbst 2023 beim ruprecht mit, nimmt kein Blatt vor den Mund und plädiert stetig für ein Sport-Ressort.
...studiert Politikwissenschaft und Anglistik. Seit dem Winter 2023 ist sie beim ruprecht, wo sie mal dies und mal das macht.
...studiert molekulare Biotechnologie und ist seit dem Sommersemester 2023 beim ruprecht. Meistens schreibt sie wissenschaftliche Artikel oder über das studentische Leben. Seit November 2023 kümmert sie sich außerdem um die Website und den Instagram-Kanal des ruprecht.
...studiert Volkswirtschaft und schreibt seit dem Sommer '23 für den ruprecht. Er ist ein Freund der pointierten Kolumne und leitete einst die Seiten 1-3.