Populismus, Polarisierung, Rechtsruck: Demokratien stehen weltweit unter Druck
Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Wahlen in den USA, Taiwan, Bangladesch, Ghana, Portugal, Pakistan, Südkorea, Südafrika, Mexiko und Indien. 2024, das sogenannte „Superwahljahr“. Rund 3,6 Milliarden Menschen und damit fast die halbe Menschheit haben das Recht, ihre Stimme abzugeben. Solche Zahlen können schon mal ein Gefühl von Ohnmacht und Überforderung auslösen.
Ob Klima, Krieg oder Industrie, wir leben in einer Welt, in der es an Krisen nicht mangelt, in der Informationsüberfluss Alltag ist. In einem Jahr, in dem so viele zentrale Entscheidungen für die Zukunft der Welt getroffen werden, wie soll man da noch hinterher kommen? Viel zu viele Themen, viel zu viele Wahlkampagnen und wie es scheint zu wenig Raum für Demokratie?
Expert:innen vermuten, dass die Welt mitten in einer Welle der Autokratisierung steckt. Weltweit werden also immer weniger Menschen demokratisch regiert. Laut den Untersuchungen des V-Dem Institute, einem bedeutenden Institut für Demokratieforschung, lebten im vergangenen Jahr weniger als 30 Prozent der Weltbevölkerung in demokratischen Verhältnissen, 2003 war es noch die Hälfte. Der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung verzeichnet den gleichen Trend: Nie in den letzten 20 Jahren wurden weniger Entwicklungs- und Transformationsländer demokratisch regiert als im Jahr 2024. Die Forschung zeigt aktuell einen starken Rückgang der Demokratie in Osteuropa. Neben offensichtlichen Beispielen wie Russland sind mit Ungarn, Kroatien und Rumänien auch EU-Mitgliedsstaaten betroffen. Der Rechtsruck in Europa ist also nicht nur ein Bauchgefühl – er zeichnet sich auch in wissenschaftlichen Untersuchungen ab.
Wie konnte es zu diesen Entwicklungen kommen? „Allumfassende Beweggründe für diesen Trend gibt es nicht“, betont Aurel Croissant, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Heidelberg. Er bemüht sich dennoch um einen Erklärungsversuch: „In etablierten, westlichen Demokratien öffnet die Schwäche etablierter Parteien ein politisches Vakuum für populistische Parteien“, meint er. Die Schwäche der Gesetzten sieht er vor allem in ihrem Unvermögen, Lösungen für empfundene Bedrohungen wie Migration und damit verbundene Ängste um kulturelle Identität oder für die wachsende Ungleichheit zu finden. Kann das Jahr 2024 mit all seinen Wahlen angesichts dieser Entwicklungen vielleicht eine Wende herbeiführen?
Professor Croissant ist eher skeptisch: „Autokratische Länder orientieren sich zunehmend an demokratischen Normen wie Wahlen, um ihre Herrschaft zu legitimieren. In Indonesien zum Beispiel sind die Wahlen frei und korrekt abgelaufen, gewonnen hat trotzdem ein autoritärer Populist.“ Demokratische Grundwerte entwickeln sich in manchen Ländern zu einem Instrument der Machtsicherung. Auch der Varieties of Democracy-Index kommt zu einem ähnlichen Schluss: In 31 der 60 Länder, in denen Nationalwahlen abgehalten werden, haben sich die Voraussetzungen für den Erhalt einer stabilen Demokratie verschlechtert.
Expert:innen der Politikwissenschaft haben neue Dynamiken in der momentanen Autokratisierungswelle im Vergleich zu vorherigen festgestellt. Die moderne Autokratisierung schleicht graduell und unauffällig voran – durch Abschaffung der Pressefreiheit oder Einschüchterung der Opposition. Radikale Regimewechsel durch Staatsstreiche gibt es kaum.
In den etablierten westlichen Demokratien besteht ein anderes Risiko. Für die anstehende Europawahl wird ein Aufwärtstrend nicht nur der rechts-, sondern auch der linkspopulistischen Parteien prognostiziert. Die Konsensfähigkeit des Europäischen Parlaments sowie die Handlungsfähigkeit der EU könnten eingeschränkt werden, da die Dis-tanz zwischen den politischen Positionen der Abgeordneten zunehmen würde. Scheinbare Aussichtslosigkeit, was nun? Alltagsstress, Zukunftssorgen und am Horizont scheinbar unendliche, unlösbare Krisen.
Da fragt man sich, was man als Einzelperson tun kann. Möglicherweise muss man auch keine Riesenschritte leisten, nicht alleine die Welt retten. Eventuell kann man ja auch hier und da mit Freund:innen über solche Themen reden oder öfter die Nachrichten lesen.
Konkrete Handlungsempfehlungen kann uns Professor Croissant nicht geben. „Die Eigenverantwortung, die man in der Demokratie spürt, hängt vom Selbstbild ab.“, meint er.
Wo genau sehe ich mich, als Teil der Gesellschaft und wie aktiv will ich sein? Wie viel will ich mich selbst und vielleicht auch andere informieren und mobilisieren? Diesen Fragen muss sich somit jede und jeder selbst stellen.
Von Elena Lagodny, Claire Meyers und Severin Weitz
...studiert Politikwissenschaft und Geschichte und schreibt seit dem WiSe 2023/24 für den ruprecht. Besonders gerne berichtet er über Politisches aus Heidelberg und der weiten Welt oder die neusten Entwicklungen an der Uni.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.