VWL und andere Sozialwissenschaften orientieren sich oft an naturwissenschaftlicher Methodik. Damit reproduzieren sie ein problematisches Verständnis von Wissenschaft
Das Gesetz der Nachfrage, Gleichgewichtszustände, Quantitätsgleichung – das moderne Volkswirtschaftslehre-Studium enthält Begriffe und Theorien, die stutzig machen können. Kann man die Inflation wirklich mit einer Gleichung erklären? Wenn der Mindestlohn laut der Zahlen auf meiner Vorlesungsfolie Arbeitnehmer:innen schlechter stellt, warum hält man dann politisch daran fest?
Wirtschaftliche Themen sind fester Kern der alltäglichen Debatte und Wirtschaftsexpert:innen geschätzte Stimmen in den Medien. Das Studienfach VWL – wie auch andere Sozialwissenschaften – sollte man jedoch gerade deswegen kritischer beobachten, schließlich können diese Disziplinen unser Verständnis von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft enorm beeinflussen.
Was sich an den Sozialwissenschaften kritisieren lässt und Studienanfänger:innen stutzig macht, ist die positivistische und formalisierte Methodik der Fächer. Seit dem 19. Jahrhundert orientiert man sich dabei mehr und mehr an den Naturwissenschaften, insbesondere an der Physik, um wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Vorgänge zu analysieren. Dieser Hang ist für die VWL vielleicht plausibel: Zins, Bruttoinlandsprodukt oder Löhne lassen sich nun mal leicht als abzählbare Variablen in einer mathematischen Gleichung abbilden.
Diese Herangehensweise muss man nicht allgemein verteufeln, dennoch: Eine Fokussierung auf das „Ist“, die deskriptive Aufschlüsselung des jetzigen Zustands, bedeutet auch, seinem Forschungsgegenstand nicht unbedingt kritisch gegenüberzustehen. Dieser Positivismus mag hilfreich sein, wenn man wissen möchte, wie Äpfel wachsen und warum sie zu Boden fallen. Vergessen darf man dabei nicht, dass alle formulierten ökonomischen Gesetze „zwar einerseits als Zwangsgesetze auf die Menschen wirken, aber andererseits nur durch sie und ihre Handlungen wirken“, wie der Wissenschaftsphilosoph Oliver Schlaudt erklärt.
Sozialwissenschaften untersuchen Phänomene, die innerhalb der politischen Sphäre liegen und somit durch Menschen verändert werden können. Ein „Gesetz“ zu formulieren, dass polit-ökonomische Ereignisse erklären soll, schafft einen Determinismus. Eine demokratische Gesellschaft sollte sich diesen Vorhersagen nicht willenlos unterwerfen.
Auch ist es typische Praxis in der VWL, von idealen Gleichgewichten auszugehen: Angebot gleich Nachfrage. Im zweiten Schritt werden Abweichungen von diesem Idealzustand analysiert. Dabei wird selten in Frage gestellt, von welchem Ideal man dabei eigentlich ausgeht. Sozialwissenschaften treffen Aussagen über die Menschen und müssen so für eine wissenschaftliche Methodik auch Annahmen über diese treffen.
In der Konsequenz kann es eine komplett wertfreie Sozialwissenschaft nicht geben. Deswegen muss man sie nicht über Bord werfen, sich jedoch ein Bewusstsein schaffen, an welchem Menschenbild oder welcher Denkschule man sich orientiert. VWL-Studierende in Heidelberg sind beispielsweise äußerst selten mit Alternativen zur Neo-Klassik, der nach wie vor prominentesten Strömung der Wissenschaft, konfrontiert.
Dass man sich als Sozialwissenschaft naturwissenschaftliche Praxis aneignet, sollte jedoch generell problematisiert werden. Die Qualität von Aussagen aus unterschiedlichen Disziplinen der Wissenschaft ist aufgrund ihrer unterschiedlichen Beobachtungsgegenstände schon unvergleichlich. Man begibt sich auf dünnes Eis, wenn man eine Wissenschaft als Ideal erhebt und sich zum Vorbild nimmt, aber auch Gesetze über den Menschen formuliert.
Zu Herzen nehmen könnte man sich, was das Institut für Sozialforschung 1956 dazu in seinem Begriffsband formuliert hat: „Wer die menschlichen Dinge nicht an dem mißt, was sie selber bedeuten wollen, der sieht sie nicht bloß oberflächlich, sondern falsch.“
Von Justus Brauer
…hielt schon immer gerne eine Zeitung in der Hand. Seit Frühling 2023 kann er seine Begeisterung für den Journalismus beim ruprecht ausleben.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.