Geniestreich oder Wahnsinn? Nach den EU-Wahlen hat Macron überraschend Neuwahlen angekündigt. Ein Stimmungsbild der französischen Studierendenschaft
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Emmanuel Macron hat die Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen angekündigt. Ausgangssituation für diese Entscheidung war das Wahlergebnis der Europawahl, bei der die rechtsradikale Partei Rassemblement National (RN) mit 31,4 Prozent stärkste Kraft wurde. Macrons proeuropäisches Bündnis Besoin d’Europe lag mit 14,6 Prozent auf dem zweiten Platz. Gewählt wird die französische Nationalversammlung nach einem absoluten Mehrheitswahlrecht in ein bis zwei Wahlgängen. Pro Wahlkreis kann ein:e Kanditat:in gewählt werden, der oder die mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen muss, um in die Nationalversammlung einzuziehen. Gelingt dies keinem der Kandidierenden im ersten Wahlgang, findet eine Stichwahl statt. Um die Wahl des RN zu verhindern, hat Macrons Bündnis sich mit dem links-grünen Nouveau Front Populaire (NFP) darauf geeinigt, den jeweils schwächeren Kandidierenden zurückzuziehen. Man wollte verhindern, sich gegenseitig Stimmen abzunehmen. Diese Strategie ging im Endeffekt auf. Der NFP ist stärkste Kraft geworden. Was das Wahlergebnis für Frankreich konkret bedeutet, ist zur Zeit noch unklar. Keine der drei Parteien hat eine absolute Mehrheit, daher ist ungewiss, wer den oder die Premierminister:in in Zukunft stellen wird.
Von Claire Meyers
Ein Tischgespräch in Paris
Die Sonne brennt am Pariser Himmel, der RN steht zwischen den Wahlgängen bei 33 Prozent und die Französ:innen fragen sich, was sie als Nation noch zusammenhält. Politische Diskussionen prägen längst jedes Gespräch, ob im Bekanntenkreis oder in den Straßen und Cafés. Vor allem junge Menschen haben für die Extreme gestimmt, nur neun Prozent wählten im ersten Wahlgang Macrons Bündnis. Doch was bewegt sie dazu, sich von der politischen Mitte abzuwenden? Emma, Gwenaël und Luc studieren alle in Paris. Nach außen verbindet sie vieles, politisch aber teilen sie nicht viel.
Luc studiert an der Sciences Po Politikwissenschaften und stammt aus Burgund. Er unterstützt seit Jahren leidenschaftlich den RN und sieht eine Zeitenwende nahen: „Bald stellen wir den Präsidenten. Das Zeitalter der Oligarchie ist vorbei.“ Wichtigstes Thema ist für ihn die Ungleichheit zwischen Paris und den Provinzen. „Wir werden von Parisern regiert, die die gleiche Karriere hinter sich haben und den Rest der Franzosen verachten.“ Menschen mit mittleren Bildungsabschlüssen hätten früher in der Mitte der Gesellschaft gestanden, heute aber sowohl Einkommen als auch ihre Würde verloren.
„Die untere Mittelschicht wird von allen Seiten bekämpft. Von oben spucken uns die reichen Pariser auf den Kopf, unsere Kultur wird uns von den Migranten streitig gemacht. Was bleibt da noch?“. Obwohl vier der letzten fünf Präsidenten an seiner Universität studierten, sieht er sein soziales Milieu von Bildungschancen ausgeschlossen. „Ich bin der Einzige meiner Freunde, der es nach Paris geschafft hat, wie sollen wir nicht wütend sein?“ In keinem anderen Land Europas ist das kulturelle und ökonomische Kapital der Nation so stark in der Hauptstadt konzentriert wie in Frankreich. Doch ist ein Mangel an Chancengleichheit wirklich der Grund für den Aufstieg der Extreme in Frankreich?
Dem widerspricht Gwenaël. Auch der Pariser studiert an der Sciences Po. Unter keinem anderen Präsidenten seien Chancengleichheit und Wohlstand stärker gewachsen. „Es ist paradox. Die Menschen hassen Macron persönlich so sehr, dass sie beliebige Gründe vorschieben, um RN oder la France Insoumise (LFI) zu wählen.“ Dass Macron die Nationalversammlung aufgelöst hat, sieht er als einen genialen Schachzug. Über den Zeitpunkt könne man diskutieren, Ziel sei es aber, den RN zu entzaubern. Sogar eine mögliche Regierungsbeteiligung sieht er gelassen. Die Popularität extremer Parteien kann er erklären: „Für die meisten Franzosen ist der Kompromiss die Niederlage der eigenen Idee. Sie träumen und werden zu Marxisten oder Rechts- extremen“. Auf die Frage, ob er in der Stichwahl die Linken oder Rechten wählen wird, antwortet er lange nicht. „Ich kann nicht für den Rassemblement National stimmen. Aber die Linke ist ebenfalls so extrem, dass ich ihr auf keinen Fall meine Stimme geben kann.“
Emma sieht in dieser Unentschiedenheit pure Feigheit, sie unterstützt seit langem die LFI. Die radikal-linke Partei ist der größte Block des linken Wahlbündnisses NFP. Für ihr Studium an einer Grande École besucht Emma die vorausgesetzten Vorbereitungsklassen. Sie stammt aus Montpellier, alle anderen in ihrem Jahrgang sind aus Paris. Im großen Erfolg des linken Wahlbündnisses NFP sieht sie einen Erfolg für die Menschenwürde. Frankreich, das Land der Menschenrechte, müsse sich endlich wieder zu diesen bekennen.
Grund für die politische Polarisierung sei die ökonomische Frustration junger Menschen: „Linke und Rechte spüren den gleichen Druck. Die Kaufkraft lässt nach, die Zukunft ist ungewiss.“ Die politische Mitte habe versagt, denn die Lage im Land sei schlecht und diese regiere schließlich. In Macron sieht sie einen distanzierten Potentaten. „Dieser Mann ist unfähig, zum französischen Volk zu sprechen. Er hilft den Reichen und Gebildeten, arme Franzosen interessieren ihn genauso wenig wie Menschen im globalen Süden.“
Auf die Frage, was die Nation Frankreich heute noch verbindet, fällt ihnen lange keine Antwort ein. „Die Ideale“, sagen sie dann. Nur leider haben nicht alle die gleichen.
Von Vincent Vogel
An den Unis Frankreichs
In den Universitäten Frankreichs herrschte bereits vor der Europawahl Nervosität. Carolina studiert angewandte Sprachwissenschaften in Straßburg und berichtet von ihren Professor:innen, die vor den Sommerferien zunehmend besorgt wirkten, in welche Richtung sich die Wahlen entwickeln würden. Auch Ilona, die in Paris Wirtschaft und Management studiert, erzählt von steigenden Spannungen. „Studierende haben oft demonstriert und abends Informationsversammlungen nach den Vorlesungen in den Hörsälen organisiert.“
Der Rechtsruck, der in Europa zu beobachten ist, und für den die Entwicklungen Frankreichs sinnbildlich stehen, macht sich auch innerhalb der französischen Studieren- denschaft bemerkbar.
Felix studiert Geografie in Grenoble und ergänzt: „Der RN ist sehr erfolgreich. Rechtsextremismus ist in den französischen sozialen Medien salonfähig geworden. Sogar an meiner Universität hörte ich von einzelnen Leuten, die RN oder Reconquête wählen.“
Auch Carolina berichtet, dass Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe zunehmend rechte Ansichten lautstark teilen.
Bezüglich der Entscheidung Macrons, die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen anzukündigen, gehen die Meinungen auseinander.
Diogo studiert Jura in Straßburg, seine Reaktion auf die Ankündigung: „Ich war ehrlich gesagt nicht überrascht. Angesichts der politischen Spannungen und der zunehmenden Polarisierung war es nur eine Frage der Zeit, bis eine solche Entscheidung getroffen wird. Man muss trotzdem berücksichtigen, dass diese ein gewisses Risiko birgt.“
Ilona hingegen war überrascht: „Niemand hatte mit dieser Ankündigung direkt nach den Europawahlen gerechnet. Ich fragte mich, ob es eine kalkulierte Entscheidung seitens Macrons war.“
Auch Felix sieht die Neuwahlen skeptisch: „Macron spielt Poker mit der französischen Politik. Ich denke die Neuwahlen sind zu gewagt. Meiner Meinung nach bedeuten diese den Sieg des RN und die damit einhergehende weitere Entkräftigung der französischen Regierung.“ Eine einheitliche Antwort gab es auf die Frage, ob man die momentanen Entwicklungen als beunruhigend empfindet. Ilona erklärt: „Als junge schwarze Studentin fühle ich mich besonders von Fragen der Gleichheit und Vielfalt betroffen. Ich fürchte, dass die Fortschritte der letzten Jahre in diesem Bereich von politischen Kräften, die diese nicht priorisieren, in Frage gestellt werden könnten.“ Felix erläutert: „Vor allem beunruhigt mich, dass der Dialog mit verschiedenen Wählern unmöglich geworden ist.“
Macron hat sein Pokerspiel schlussendlich gewonnen, der RN ist nach dem zweiten Wahlgang nur noch drittstärkste Kraft. Scheinbar war sein Vertrauen in die französische Bevölkerung doch nicht so unberechtigt. Trotzdem konnte der RN im Vergleich zur letzten Wahl 2022 insgesamt 54 Sitze im Parlament dazugewinnen.
Von Claire Meyers
...studiert Politikwissenschaften und Geschichte und schreibt seit anfangs des Wintersemester 2023/24 für den ruprecht. Besonders interessiert sie sich für Politik, schreibt aber auch gerne über Heidelberg oder kulturelle und gesellschaftliche Themen.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.