Türkische Fachkräfte wandern nach Europa ab
In der Heimat um das unsichere Leben kämpfen oder in ein fremdes Land in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft flüchten? Das ist eine Frage, die sich viele Kinder und Jugendliche in der Türkei stellen. Die Einschränkung von Freiheitsrechten ist einer der Hauptgründe für diese Frage. So drohen bei kritischen Äußerungen gegen die Regierungspartei nicht nur Terrorismusvorwürfe, sondern auch eine Haftstrafe.
Im Jahr 2023 wurden beispielsweise 14 Studierende im Zusammenhang mit den drei Jahre andauernden Bogazici-Universitäts-Protesten verurteilt, weil sie gegen die Einberufung des von Erdoğan ernannten Rektors protestiert hatten. Auch dieses Jahr wurde ein Protestmarsch am Taksim-Platz in Istanbul, welcher zum 1. Mai stattfinden sollte, gewaltvoll verhindert und mehr als 200 Menschen wurden inhaftiert. Dabei gilt der Taksim-Platz als symbolträchtiger Ort, der in der Vergangenheit oft für Proteste genutzt wurde.
Auch die wirtschaftliche Lage der Türkei sieht düster aus. Die Inflation steigt stetig und liegt derzeit bei über 70 Prozent. Die Währung verliert immer mehr an Wert; so sind ein Euro umgerechnet mittlerweile 35 Lira. Die ehemalige Chefin der Notenbank Hafize Erkan hat auf die steigenden Mietpreise hingewiesen, die vergleichsweise höher sind als die in Manhattan. Sie selbst ist wieder bei ihren Eltern eingezogen, da sie in Istanbul keine bezahlbare Wohnung finden konnte.
Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Grundsicherung in der Türkei immer schwieriger wird. Aus diesen Gründen verschlägt es viele türkische Jugendliche für die höhere Ausbildung ins Ausland. Es gibt aber auch eine hohe Anzahl an Familien, die diese Chance nicht ergreifen können. Die letzten offiziellen Zahlen, nach denen mehr als 800.000 Minderjährige Kinderarbeit leisten müssen, berufen sich auf das Jahr 2017. Die Kinder werden vor allem in der Erntehilfe, aber auch in der Stadt als Müllsammler:innen eingesetzt.
Auch viele bereits ausgebildete Fachkräfte zieht es nach Europa oder Nordamerika. Zwischen 2017 und 2021 wanderten ungefähr 4500 Ärzt:innen aus.
Zusätzlich zur wirtschaftlichen Lage spielt die erhöhte Gewaltbereitschaft, die dem Gesundheitspersonal entgegengebracht wird, eine wichtige Rolle. Aufgrund des Personalmangels kommt es zu längeren Wartezeiten, was in der Vergangenheit vermehrt zu gewaltvollen Konfrontationen geführt hat. Ende 2023 zählte die Bundesärztekammer allein in Deutschland knapp 3000 Ärzt:innen aus der Türkei. Ähnlich sehen die Abwanderungszahlen bei Ingenieur:innen oder auch Professor:innen aus. In der Konsequenz besteht in der Türkei ein Fachkräftemangel, der mit einem Verlust von Steuerzahlungen sowie der Schwächung der staatlichen Institutionen einhergeht.
Viele Türk:innen sind zerrissen zwischen der Heimat und einem Ort, der ihnen mehr Chancen in Aussicht stellen könnte. Es ist die Zerrissenheit zwischen Eigennutz und den Möglichkeiten, welche man der türkischen Heimat entgegenbringen kann.
Von Verda Can
...studiert seit dem WiSe 2021 im Bachelor in Geschichte und Religionswissenschaft – beim ruprecht ist sie seit Studienbeginn, hat zwischendurch Hochschule mitgeleitet und ist zurzeit im Layout-Team. Bei Gelegenheit produziert sie auch Illustrationen für Artikel und schreibt am liebsten über Medien und internationale Themen.