Han Kang hat sich in den letzten zehn Jahren bereits mit ihren Werken „Die Vegetarierin“ oder „Weiß“ einen Namen in der Literaturwelt gemacht. Nun wurde die Schriftstellerin 2024 mit der höchsten Auszeichnung geehrt, dem Nobelpreis für Literatur.
Zum ersten Mal erhält eine südkoreanische Schriftstellerin den Nobelpreis für Literatur. Die Schwedische Akademie der Wissenschaften lobt ihre „intensiven poetischen Prosa, die sich mit historischen Traumata und der Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins auseinandersetzt und [diese] aufdeckt“. Anlässlich dazu ist besonders eines ihrer Werke interessant, das über zehn Jahre kein internationales Interesse erweckt hatte, bis nun 2023 eine englische Übersetzung veröffentlicht wurde: „Greek Lessons“. Das Buch erschien erstmals 2011. Auch die deutsche Version ließ auf sich warten, denn diese kam erst Anfang dieses Jahres heraus.
„Greek Lessons“ beschäftigt sich mit zwei auf den ersten Blick ungleichen Figuren, welche sich im Verlauf der Geschichte immer weiter komplementieren. Sie lernen sich – wie im Titel bereits vermerkt – im Rahmen eines Griechischkurses kennen. Die namenlose Protagonistin verliert nach einer Reihe an Schicksalsschlägen, wie der Tod ihrer Mutter und das Verlieren des Sorgerechts für ihren Sohn, ihre Sprachfähigkeit. Doch für sie ist es zunächst kein großer Verlust: „Just as she had always disliked the way her voice diffused through the air, she found it difficult to tolerate the disturbance her sentences wreaked on the silence.“ Die Stille, die sich um sie herum gebildet hat, ist dieselbe, die sie zum Altgriechischen hinzieht, da auch diese Sprache nicht mehr gesprochen wird. Aber nicht nur die längst verstorbene Sprache weckt ihr Interesse: Auch ihr Griechischlehrer fasziniert sie. Dieser leidet an einer Erbkrankheit, die ihm langsam, aber unausweichlich, erblinden lässt.
Das Narrativ wechselt zwischen den beiden Figuren und führt die Leser:innen durch eingeschobene Rückblenden immer näher an das Innere der Charaktere. Dennoch bedarf es eines guten Orientierungssinnes, denn es ist nicht bei jedem neuen Kapitel direkt klar, aus welcher Perspektive gerade geschildert wird. Die vergangenen Ereignisse der Figuren schließen unerwartet mit den gegenwärtigen Ereignissen einen Kreis. Zum einen erlebte die Protagonistin schon einmal in der fernen Kindheit einen Sprachverlust. Ihr Lehrer erinnert sich manchmal an seinen Vater, der ebenfalls seine Sehfähigkeit verlor. Diese schmerzhaften Erinnerungen schildert die Autorin mit großer sprachlicher Sensibilität und menschlicher Tiefe. Auch wenn es zwei Protagonist:innen gibt, interagieren diese bis zum Ende hin fast nur im Unterricht miteinander. Der Fokus liegt daher mehr auf den individuellen Geschichten der Figuren und weniger auf deren Aufeinandertreffen und dem daraus entstehenden Halt, den sie sich geben. Doch im Laufe des Romans kommt es zu mehr Zuwendung und eine intimere Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden. Auch der Schreibstil wird viel poetischer, fast schon lyrisch. Die letzten Kapitel wirken wie ein langes Gedicht: „He doesn’t know that his eyes are reflected in hers, that hers are in his reflection, and his again in those … in an endless reflection.“
Han Kang verbindet in „Greek Lessons“ durch sorgfältig ausgewählte sprachliche Elemente des Altgriechischen und des Koreanischen, die unmittelbar ins Englische übersetzt sind, zwei unterschiedliche Leben miteinander. Dabei wird über die eigene sprachliche Identität, das Verlieren dieser und über die Sprachen, die nicht gesprochen werden müssen, um verstanden zu werden, reflektiert.
Von Amélie Lindo
...studiert Germanistik und Japanologie im Bachelor. Seit 2022 ist sie beim ruprecht aktiv und leitet seit dem WiSe 2022 das Feuilleton.