Hinfallen und wieder aufstehen ist das, was sein Leben prägt: Lennart Sass hat bei den Paralympics 2024 die Bronzemedaille im Judo erkämpft. In Heidelberg trainiert er nicht nur am Olympiastützpunkt, sondern studiert auch Jura. Mit dem ruprecht spricht er über seine Erlebnisse aus Paris, wie der Sport ihm in schwierigen Zeiten weiterhilft und die wichtigsten Werte, die Judo vermitteln kann
Wer bist du?
Ich bin Lennart Sass, 24 Jahre alt und Jurastudent an der Universität Heidelberg. Zu dem bin ich Judoka und habe bei den Paralympischen Spielen diesen Sommer die Bronzemedaille erkämpft. Bis 2016 konnte ich normal sehen, in den Sommerferien bin ich schlagartig an der seltenen Erbkrankheit LHON erblindet. Das war erstmal ein Schicksalsschlag, eine Herausforderung, an der ich mich neuorientieren musste.
Was denkst du, hat dir nach diesem Schicksalsschlaggeholfen, der Mensch zu werden, der du heute bist?
Die Veränderung bin ich zuerst angegangen, indem ich zurück auf die Matte gegangen bin. Vieles ging nicht mehr: insbesondere Handball, meine damalige Leidenschaft. Aber wenn ich den Ball nicht mehr fangen konnte, konnte ich zumindest noch kämpfen. Das heißt im Alltag, aber vor allem auch auf der Matte. In dem Moment, in dem ich den Judoanzug getragen habe, war alles wie früher. Ich konnte meinen Sport vollwertig weitermachen, denn es gibt keine Behinderungen auf der Matte, keine Barrieren. Sobald ich meinen Partner gegriffen habe, ging alles wieder über das Körpergefühl, da musste ich nicht mehr sehen. Ich habe mich vor allem über die Matte zurück ins Leben gekämpft und konnte das in der paralympischen Welt fortsetzen.
Wann hat deine professionelle Judokarriere angefangen?
2022 hat die Qualifikationsreihe für Paris begonnen. Ich komme gebürtig aus Kiel, bin aber wegen der optimalen Vorbereitungsbedingungen vor zwei Jahren nach Heidelberg gezogen. Von hier aus haben wir dann den Erfolg aufgebaut. Ich habe bei der internationalen deutschen Meisterschaft mein Debüt gegeben und bin im gleichen Jahr bei den Europa- und Weltmeisterschaften Vizemeister geworden. Das war ein raketenmäßiger Aufstieg, da bin ich mit meinem Kampfgeist wohl am richtigen Platz gewesen.
Wie sieht dein Tagesablauf zwischen Staatsexamen und Spitzensport aus?
Ich habe es immer in Phasen abgeschichtet. Im letzten Jahr vor den Spielen habe ich sehr intensiv trainiert: zwei, drei Mal am Tag. Morgens beginnt der Tag mit Kraft und Ausdauer, dann Technik und Koordination, Physiotherapie und abends Judotraining. Da ist neben der Regeneration nicht mehr besonders viel Zeit für die Universität. Nach Paris wechsle ich aus der Sporthalle an den Schreibtisch. Das Ziel ist es, ein Jahr durchzuziehen und mein Staatsexamen vorzubereiten. Ich bin gespannt auf den Twist, weil ich schon einen hohen Bewegungsdrang habe. Doch der Veränderung bedarf es, weil es wichtig ist, die Karriere nachmeiner sportlichen Karriere vorzubereiten. Jura ist ja ebenso meine Leidenschaft, die ich wie alles, was ich an packe, fertigstellen möchte. In der Zwischenphase nach Paris werde ich den Unialltag also mit gleichbleibender Disziplin und Ehrgeiz durchziehen.
Wie wichtig ist für dich ein unterstützendes Umfeld?
Das Studium ist neben all meinen sportlichen Leistungen das übergeordnete Ziel, nachdem ich strebe. Da sind viele, die das strukturell mit ermöglichen. Die Juristische Fakultät arbeitet in Abstimmung mit dem Sportstipendium und auch die Laufbahnberatung vom Olympiastützpunkt sitzt mit am Tisch. Durch meine Blindheit habe ich einige Nachteilsausgleiche und auch meine Wettkampfphasen werden berücksichtigt. Das persönliche Umfeld ist natürlich ebenso wichtig. Neben meinen Kommilitonen und Trainern ist da natürlich auch meine Familie, die mich im sportlichen, universitären und gesamten Lebensweg unterstützt und mir immer den Rücken stärkt. Das ergibt das Gesamtbild davon, wo ich heute stehe, und dafür bin ich jedem einzelnen dankbar.
Wie waren deine Erfahrungen in Paris? Wie hat es sich angefühlt, in die Bronzemedaille in der Hand zu halten?
Paris war mit Abstand das Highlight meines Lebens. Sich beim größtmöglichen Wettkampf eine Medaille zu erkämpfen, ist ein Lebenstraum, der in Erfüllung gegangen ist. Das hätte ich niemals erwartet. Ich könnte Europa- und Weltmeisterschaften zusammenrechnen und es würde nicht an Paris herankommen. Ich habe es genossen, meine Leistung der letzten Jahre abzurufen und einfach vor internationalem Publikum meinen Judosport zu repräsentieren. Das ist eine riesige Ehre, der ich immer demütig gegenüberstehe. Als ich vor 10.000 Zuschauern in diese Halle vor dem Eiffelturm eingelaufen bin, war das unglaublich: Zu wissen, dass alle Weggefährten, die einen dahin gebracht haben, einem zuschauen. In dieser Bronzemedaille ist ein Stück vom Eiffelturm, aber auch ganz viel Blut, Schweiß und Tränen von dem Weg davor. Das bedeutet viel Verzicht und viele Herausforderungen, deren Überwindung man mit einem Stück Medaille einfach greifbar gemacht hat. Vom Tag selber kann ich tatsächlich wenig berichten: Er ist wie ein Film durchgelaufen.
Bist du nervös vor Kämpfen?
Ich habe positiven Druck. Das Adrenalin ist wahrscheinlich am Anschlag, aber innerlich bin ich ruhig und bereit, dass es losgeht. Auf der Matte passiert es dann einfach. Ich kann dann nichtmehr von Denken sprechen. Dieser Kampfgeist, der dort ausgelebt wird, ist intuitiv. Judo ist ein schneller Sport, er verzeiht keine Fehler. Da musst du wirklich auf die Sekunde fit sein. Das ist schon auch eine Challenge, dass man im Training auf diesen einen Tag hin trainiert. Alles richtet sich nach diesem Ziel, nach diesem Wettkampf, nach diesem Tag.
Nach einem nicht ganz unumstrittenen Urteil konntest du das Halbfinale in Paris nicht für dich entscheiden. Wie gehst du mit sportlichen Niederlagen um?
Sich über Erfolge aufzubauen ist das eine, das Positive kommt aber auch aus dem Negativen. Scheitern gehört gerade im sportlichen Kontext dazu. Im Judo hat man direkt Feedback, wenn man verliert. Das spürt man, wenn man auf die Matte fliegt. Im Halbfinale war das nochmal eine besondere Situation. Ich wusste nicht sofort, was passiert, weil die Niederlage zeitlich verzögert durch die Entscheidung des Kampfgerichts entstanden ist. Dort wurde ich kurz vor Schluss trotz Führung disqualifiziert, weil ich mit dem Kopf zuerst auf die Matte gekommen bin. Man nennt das Diving, das zählt als Selbstgefährdung. In dem Moment, in dem man sich schon im Finale sieht, ist das ärgerlich. Als Judoka habe ich es aber mit Fassung getragen. Es gibt keinen Zweifel am Kampfgericht. Ich habe mich auch nicht aufgeregt oder diskutiert, sondern habe mich verbeugt und bin von der Matte gegangen. Dann habe ich den Fokus umgelegt: Bronze ist das neue Gold.
Los Angeles wartet. Wie sehendeine nächsten vier Jahre aus?
Nach den Spielen ist vor den Spielen. In Los Angeles kämpfe ich auf jeden Fall. Da bin ich 28 und wahrscheinlich in meiner sportlichen Prime Time. Zusätzlich kommt noch die universitäre Karriere. Mein Studium möchte ich zumindest mit dem ersten Staatsexamen abschließen. Das gilt es jetzt vorzubereiten, sodass ich 2026 hoffentlich fertig bin. Parallel versuche, ich direkt schon das Trainingsvolumen hochzufahren. Gerade die letzten zwei Jahre vor den Spielen sind da entscheidend. Hier in Heidelberg eröffnen wir jetzt auch noch den Parajudo-Bundesstützpunkt, da gab es gerade nach Paris positiven Aufwind. Den möchte ich auch nutzen, um die Flagge für den Parasport hochzuhalten. Das nächste halbe Jahr habe ich vor allem vor, andere Sportarten auszuprobieren, die sonst zu verletzungsgefährdend gewesen wären.
Womit sollten sich die Menschen mehr beschäftigen?
Mit mehr Gemeinschaft und dem Gefühl, füreinander da zu sein, wenn es darauf ankommt. Wenn man sieht, dass jemand den Kopf hängen lässt, wünsche ich mir, dass man ihn wieder aufbaut und versucht mitzuziehen, bis er selber wieder laufen kann. Das habe ich in der Judowelt so erfahren. Auch wenn wir Einzelsportler sind, ist man am Ende ein Team. Dieses Fairplay könnte man auch gerne öfter in der Uni sehen.
Frage aus der Leser:innenschaft:
Was wünscht du dir für die Zukunft des Paralympischen Sports?
Jeder Mensch, den ich bis jetzt kennenlernen durfte, ist ein Ausnahmemensch und -talent und denen gebührt auch die Bühne. Nicht nur zu den Spielen alle vier Jahre, sondern jeden Tag. Bis ein Paralympionik an der Startlinie steht, hat er schon so viel gemeistert, dass dieser eine letzte Lauf oder letzte Kampf vor der Weltöffentlichkeit nur noch die Spitze des Eisbergs ist. Alles, was darunter ist, ist auf jeden Fall einen Blick wert. Das würde ich mir für die paralympische Bewegung noch mehr wünschen: Dass die Athletenmit der Persönlichkeit, dem Charakter und dem Rucksack, den sie tragen, gesehen werden. Dann ist es, denke ich, selbstverständlich, dass es in den Köpfen keine Abstufung zwischen den Olympischen Spielen und den Paralympics mehr gibt
Das Gespräch führte Annika Bacdorf
...studiert Politikwissenschaft und Anglistik. Seit dem Winter 2023 ist sie beim ruprecht, wo sie mal dies und mal das macht.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.