Heidelberger Schreibwettbewerb animiert Lai:innen zum Schreiben und bietet dem Nachwuchs eine Bühne
„Ich träume von einer Stadt, in der jede:r schreibt. In der der Polizist zu einem Einbruch gerufen wird und sagt: ‚Ich komme gleich, aber erst muss ich diesen Absatz noch fertig schreiben’“. Mit diesen Worten stimmte Marie-Luise Hiesinger am 12. November das Publikum in der gut besuchten Hebelhalle auf einen Abend voller Literatur ein. Anlässlich des 10-jährigen Jubiläums Heidelbergs als UNESCO City of Literature hatte die Autorin und Frauenrechtlerin die Idee zu einem Kurzgeschichtenwettbewerb unter dem Motto „Eine Stadt schreibt!“. Gemeinsam mit dem Kulturamt der Stadt Heidelberg wurde diese Idee umgesetzt. Das Ziel: Menschen zum Schreiben animieren.
Und so war die einzige Teilnahmebedingung, in Heidelberg zu leben, arbeiten oder zur Schule gehen beziehungsweise zu studieren. Ganze 307 Einsendungen haben Hiesinger erreicht, von Schreibenden zwischen sieben und 86 Jahren. Die Texte übergab sie einer Jury, die an diesem Dienstag die zehn Gewinner:innen bekanntgab und sie ihre Kurzgeschichten vortagen ließ.
Den Anfang macht Marcel Kückelhaus. Der Germanist nimmt das erste Mal an einem Schreibwettbewerb teil. Mit seinem Text „Die neue Gattung“ nimmt er die Literaturkritikszene gehörig auf die Schippe, kritisiert den Hype um neue Autor:innen auf satirische Weise und wirft schließlich die Frage auf, ob Schweigen nicht eine neue literarische Gattung sein kann.
Weiter geht es mit verschiedensten Texten von heiter bis traurig, von persönlich bis gesellschaftskritisch. Sie handeln von ernsten Themen wie einer Essstörung oder dem Besuch bei der Therapeutin, aber auch von einer großen Stahlkugel, die zwischen Gaiberg und Boxberg-Emmertsgrund ins Rollen gebracht wird, ganze Stadteile zerstört und dann in einer Umkehr von Schwerkraft, Zeit und Entropie Heidelberg wieder aufbaut. Der Autor dieser Kurzgeschichte ist Karl-Heinz Grosser, natürlich ein Physiker, und obwohl er in seinem Text direkt zu Beginn in Bezug auf sein Schreiben feststellt: „Mir liegt das nicht: Kein Talent!“ gewinnt er damit den dritten Platz.
Auf Platz zwei wird es noch einmal ernst: Die 15-jährige Schülerin Anne Fritz beschreibt in ihrer Kurzgeschichte „Heimweg“ mit bildhafter und gewaltiger Sprache das Innenleben eines Kindes, das die immer heftiger werdenden Konflikte in seiner Familie miterlebt und erfährt, wie die anfangs laute Aggressivität des Vaters in bedrohliches Schweigen umschlägt. Eine Bedrohung, die so beklemmend wird, dass die Mutter Suizid begeht, während das Kind sich mit all seinen Gedanken und Gefühlen alleingelassen und „unsichtbar“ erlebt.
Auf die Frage, was Schreiben für sie bedeutet sagt Fritz: „Schreiben ist für mich ein Weg, um auszudrücken, wie ich die Welt sehe.“
Mit einem Blick auf die ganz eigene Welt seines Protagonisten wartet auch der Gewinner des Wettbewerbs, Paul Liedvogel, auf. In seinem Text „60 Jahre“ erzählt er die Lebensgeschichte des 81 Jahre alten Herrn Giordano und verwischt dabei mit präziser, aber feinfühliger Sprache die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Liedvogel ist im alltäglichen Leben Videotechniker, verbringt aber den Großteil seiner Zeit mit Schreiben. Sein langfristiges Ziel ist ein Roman.
Doch nicht nur angehende Buchautor:innen hat der Wettbewerb „Eine Stadt schreibt!“ zum Schreiben bewegt, sondern verschiedenste Menschen über alle Berufsgruppen, Alters- und Stadtteilgrenzen hinweg. Damit ist der Abend ein voller Erfolg, der laut Hiesinger mit Sicherheit nicht der letzte seiner Art sein wird.
Von Lukas Hesche
...studiert Sonderpädagogik an der PH und wenn er mal wieder etwas zum Prokrastinieren braucht, schreibt er Artikel für den ruprecht.