Zweimal ist keinmal, aber dreimal ist einmal zuviel. Anwesenheitspflichten an der Uni belasten viele Studierende, für manche sind sie sogar ein ernstes Problem. Die Intransparenz der Regelungen macht es oft nicht besser. Wir sprechen mit Betroffenen und der Universität
Wie jedes Semester begann auch dieses damit, dass in Vorlesungssälen, Seminar- und Übungsräumen der Uni Heidelberg der gleiche Chor angestimmt wurde: „Um zu der Prüfung zugelassen zu werden, dürfen Studierende zwei Mal fehlen, unentschuldigt oder nicht spielt keine Rolle.“ Auf diesen Refrain folgt sein freundlich-kulanter Hinweis, dass man in Einzelfällen gerne darüber sprechen kann oder die drohende Ankündigung, dass auch bei Krankschreibungen nie Ausnahmen gemacht werden.
Die Uni Heidelberg besteht auf Anwesenheit, was gesetzlich erlaubt, nicht aber vorgeschrieben ist. Solche Regelungen, so das Hochschulrahmengsetz, sollen „sich auf die Gewährleistung eines ordnungs- gemäßen Studiums beziehen.“ Dass gerade die Anwesenheitspflicht eine solche Ordnung gewährleisten soll und eigentlich im Interesse der Studierenden sein müsste, ist jedoch höchst umstritten.
Zu oft hat man sich eigentlich krank in die volle Lehrveranstaltung gequetscht und damit für die Verbreitung einer Grippe gesorgt, von der man sich eigentlich im Bett hätte auskurieren sollen. Zu oft musste man die Anwesenheit ausgerechnet in den Seminaren erfüllen, in denen die Hälfte sich mit Videospielen ablenkt und die andere Hälfte mehr schlecht als recht dem von Referaten überfüllten Seminarinhalt zu folgen versucht.
Zuverlässige Informationen über Fehlzeiten sind nur schwer zu finden
Auch ist die Form der Abfrage von Anwesenheit eigentlich nie datenschutzkonform. So erklärt die Islamwissenschaft dem ruprecht gegenüber, dass dort für jeden sichtbar Unterschriftenlisten mit Namen, Fachkombination, Matrikelnummer und Mail-Adresse durchgehen. Die Politikwissenschaft hingegen überprüft gerade wegen des Datenschutzes in Vorlesungen keine Anwesenheit mehr.
Hier enden die Unterschiede nicht, denn Anwesenheitsregelungen sind selbst innerhalb von Studiengängen divers. Am Historischen Seminar kann man beispielsweise dieses Semester drei Mittelalter-Vorlesungen wählen, die mit Anwesenheit jeweils unterschiedlich umgehen. Warum die drastischen Differenzen?
Zuverlässige Informationen dazu sind nur schwer zu finden. Erst ein Gespräch mit Kai Töpfer, verantwortlich für das Qualitätsmanagement des Studiendekanats der Philosophischen Fakultät, verschafft mehr Klarheit. So seien die genannten Unterschiede unter anderem auf die Reaktion des Rektorats auf ein Urteil des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückzuführen.
Dieses hatte entschieden, dass eine hundertprozentige Anwesenheitspflicht unzulässig ist und jede Form der Anwesenheitspflicht entsprechende, hinreichend bestimmte Regelungen in den Studien- und Prüfungsordnungen voraussetze.
Die gerichtlich angemahnten Regelungen fehlen bis heute in den meisten Studiengängen an der Uni. Von Seiten der Unileitung wurde nach dem Urteil empfohlen, solche Regelungen nicht zu treffen; stattdessen sollten bewährte Regelungen zur Teilnahmepflicht fortgeführt werden, was aber zu großen Rechtsunsicherheiten geführt habe.
So gibt es beispielsweise auch an der Philosophischen Fakultät Empfehlungen, zu Anwesenheitsregelungen, diese werden aber nicht von allen Fächern und Lehrenden in gleicher Weise umgesetzt.
Auch Kai Töpfer stimmt den Angaben der Uni Heidelberg zu und erklärt, dass „bestimmte Veranstaltungsarten wie zum Beispiel Vorlesungen, die lediglich der Wissensvermittlung dienen, nicht mehr mit Anwesenheitspflichten belegt werden“ können. Trotzdem findet man weiterhin über die Fächer hinweg Vorlesungen, bei denen die Anwesenheit rigoros überprüft wird.
Hier sind meist Studierende selbst gefragt, die Studiendekanate darauf hinzuweisen, wenn beispielsweise versucht wird, Anwesenheitspflichten in Vorlesungen durchzusetzen; Studiendekanate haben in diese Realität bei den vielen Fächern meistens keinen detaillierten Einblick.
Ob viele diesen Weg gehen werden, ist jedoch fraglich. Viele Studierende wollen es nicht riskieren, bei Dozierenden negativ aufzufallen, von denen womöglich ihre akademische Karriere abhängt, obwohl Dozierende meistens positiv reagieren. Gerade diese persönliche Abhängigkeit wird im Zusammenhang mit Anwesenheit und lang andauernden oder chronischen Krankheiten zum speziellen Problem.
Für Menschen ohne anerkannte Diagnosen sind die Unsicherheiten dabei oft noch größer. In Alex* Fall ließ die Diagnose einer chronischen Erkrankung beispielsweise auf sich warten. Alex Symptome begannen Mitte September letzten Jahres, kurz vor Semesterbeginn. Er hatte in der Folge mit der erwarteten Wartezeit in Notaufnahmen und bei Haus- und Fachärzten zu kämpfen und erhielt eine vorläufige Diagnose erst Ende November. Bis dahin musste er darum seine Dozierenden damit abspeisen, dass er zumindest eine chronische Krankheit vermutete.
Dennoch erhielt er letztlich eine Diagnose; ein Glück, mit dem Menschen mit Gebärmutter oft nicht rechnen können. Endometriose, eine chronische Krankheit, die für lange, intensive und sehr schmerzhafte Perioden verantwortlich ist, betrifft laut Schätzungen zehn Prozent der Menschen mit Gebärmutter und wird gleichzeitig bei nur einem extrem geringen Anteil dieser tatsächlich diagnostiziert.
Das Besuchen von Lehrveranstaltungen wird durch starke Perioden, mit oder ohne Endometriose, erschwert. Viele schleppen sich unter Schmerzen mit Ibus und Wärmepads in die Uni. Ähnlich geht es Menschen mit psychischen Krankheiten, die wegen des Mangels an Kassenplätzen für Psychotherapeut:innen stellenweise noch länger auf Termine warten müssen, als Menschen mit physischen Krankheiten auf den bei Fachärzt:innen.
Doch selbst mit der Diagnose für eine Krankheit finden Studierende nicht unbedingt Solidarität im Lehrkörper. So auch in Pauls* Fall, der im Gegenteil nicht nur trotz Diagnose schlechte Erfahrungen gemacht hat, sondern in Reaktion auf diesen Artikel negative Folgen für sein Studium erwartet. Dem ruprecht erzählt er, dass er für einen dringenden, unaufschiebbaren Facharzttermin hunderte Kilometer reisen musste, was zeitlich unvereinbar mit einem einzigen Labor-Praktikumstermin war. Nachdem ihm versichert wurde, dass er die Klausuren trotzdem mitschreiben dürfe, sei ihm am Ende des Semesters die beträchtliche Menge an Leistungspunkten nicht anerkannt worden.
Nach einigem Hin und Her wurden die Leistungen anerkannt, dennoch sorgte diese Verspätung für einen Unterschied in Bewerbungsfristen für Praktika und verlängerte das Studium außerplanmäßig. Gerade ein solcher Stress ist für die meisten Menschen mit chronischen Krankheiten ein starker Risikofaktor.
Letztlich sind die Studierenden auf sich allein gestellt
Dass es zu solchen Situationen kommt liegt auch an der Natur der Studienordnungen. So ist Anwesenheit notwendig, um die sogenannten Studienleistungen, vor allem die aktive Teilnahme, erbringen zu können, die auch bei chronischen Krankheiten beispielsweise nicht wegfällt. Im Falle von entschuldbaren Fehlzeiten können Dozierende jedoch ausgleichende Studienleistungen verlangen. Viele erwähnen diese Möglichkeit jedoch gar nicht und lassen Studierende im Glauben, dass zu viele Fehlzeiten sie unabhängig von den Umständen auf jeden Fall von den Prüfungen ausschließen. Dass an der Uni Heidelberg lediglich zwei Fehlzeiten erlaubt sind, ist eine jahrzehntelange Tradition. Nicht nur in Gesprächen mit Kommiliton:innen wird klar, dass diese Regelungen dabei bisweilen sehr intransparent sind; so ließ das Seminar für Anglistik den ruprecht wissen, dass dort in Vorlesungen keine Anwesenheitspflicht besteht, was die Studierenden dieses Fachs irritiert, die dort erst neulich noch auf Listen ihre Unterschrift abgegeben haben. Gleichzeitig wissen wohl wenige, die für einen Nachteilsausgleich qualifiziert sind, so Kai Töpfer, dass man sich damit an Prüfungsämter und nicht an Dozierende richten sollte.
Gerade solche Stellen bieten Studierenden die Möglichkeit, dem Chor der Anwesenheitspflicht stellenweise etwas entgegenzusetzen. Die Optionen bleiben damit aber vermutlich weiterhin auf dem individuellen Level: Trotz zahlreicher – allerdings unverbindlicher – Beschlüsse des Studierendenrats hat sich daran bislang nichts geändert.
*Namen von der Redaktion geändert
Von Matthias Lehnen
Bei der Recherche unterstützte Amélie Lindo
...studiert Geschichte und PoWi, schreibt meistens Unernstes und Erlogenes, aber auch manchmal Sachen für den ruprecht.
...studiert Germanistik und Japanologie im Bachelor. Seit 2022 ist sie beim ruprecht aktiv und leitet seit dem WiSe 2022 das Feuilleton.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.