Glosse
Draußen kann es regnen, stürmen oder schneien – Regierungskrise in Deutschland, Kriegsrecht in Südkorea oder Misstrauensvotum in Frankreich, das alles findet da, wo ich bin, nicht statt. Hier ist es warm und trocken. Hier ist es rot und plüschig. Hier ist die Welt noch in Ordnung.
Mein Überwinterungsplatz in der kalten – wie übrigens auch in der warmen Jahreszeit – ist ein roter Plüschsitz im Gloria Kino in der Hauptstraße. Natürlich nicht in der ersten Reihe, aber auch nicht ganz hinten. Mittig, leicht versetzt nach rechts, da findet man mich von Oktober bis Februar.
Begehe ich Realitätsflucht? Der Kinosessel als Symbol der Bequemlichkeit? Nichts da! Die Welt kommt im Kino zu mir, in schwarz-weiß oder in Farbe, stumm, leise oder laut, auf Japanisch, Mongolisch und Persisch.
Ich kann hier Filme sehen, die in ihren Herkunftsländern nicht gezeigt werden dürfen, und Filme, die nicht auf den Streaminganbietern zu finden sind. Filme, die vom Publikum vernachlässigt werden, weil sie zu alt sind oder nichts explodiert. Letzte Woche habe ich einen schwarz-weißen Siegfried gesehen, wie er 20 Minuten lang stumm einen Pappmaché-Drachen erlegte.
In den Ritzen der Sitze: klebriges Popcorn und Erinnerungen. An meinen ersten Horror-Film. An meinen italienischen Mitbewohner, mit dem ich hier Wes-Anderson-Filme geschaut habe. An die Flucht vor so manchen WG-Partys um in der leeren Gloriette einen Film Noir zu schauen, nur ich und die Leinwand. Pink angezogen mit den Freund:innen zum Barbie-Film. Im Kinodunkel herzklopfend Händchen halten, während der zweistündige Nibelungen-Film von 1924 läuft.
Es sind aber nicht nur die Filme selbst, sondern auch die kleinen Freuden, die das Kino zum perfekten Überwinterungsort machen. Bevor der Film losgeht, kann man das Popcorn verkosten (das beste ist weder das süße noch das salzige Popcorn, sondern das süß-salzig gemischte), die anderen Besucher:innen betrachten oder mit den Sitznachbar:innen über die Vorzüge des Kinos quatschen. Aber jetzt pscht! Das Licht geht aus, der Film fängt an.
Von Mara Renner
...studiert Kunstgeschichte und Politikwissenschaft, seit 2021 schreibt sie über Kurioses aus Politik, Kultur und dem studentischen Leben