Bundestagskandidat Tim Tugendhat (SPD Heidelberg) steckt mitten im Wahlkampf und hat mit uns gesprochen – über Kommunikation in der Politik, eine Absage an die GroKo und wie die SPD jungen Menschen helfen möchte
Lieber Tim, du hast Physik studiert und in diesem Bereich auch promoviert – Was hat dich in die Politik, zur SPD und zu deiner Kandidatur für den Bundestag bewegt?
Demokratie braucht Demokraten. Wir können den Laden dicht machen, wenn es keiner mehr machen will. Ich glaube, es braucht Menschen, die sich engagieren. Eine Demokratie ist eben schwieriger als eine Autokratie. Du kannst dich in China zurücklehnen. Hier kannst du das auch machen, aber wenn es alle machen, haben wir ein Problem.
Außerdem glaube ich, dass ich auch als Mensch einen Mehrwert bringe, weil ich nicht der Musterpolitiker bin. Ich habe nicht den typischen Politiker-Lebenslauf. Ich habe nicht Jura studiert und bin kein Lehrer, was ganz viele Politiker sind, wenn man den Bundestag anguckt. Ich bin Tarifarbeiter bei der Bahn. Ich bin eben auch ein empathischer Typ, der sich in ganz viele Situationen reinversetzen kann, was wichtig in der Politik
ist. Es wird ja oft so dargestellt, dass ein Politiker wissen muss, wie viel Butter kostet. Finde ich gar nicht. Aber jemand muss wissen, was es heißt, wenn du dir keine Butter leisten kannst.
Ein Blick auf die letzten Wochen: Die Ampelkoalition ist gescheitert. Warum gab es für die Ampelkoalition kein Happy End? Was hat die SPD daraus gelernt?
Die Ampel wird immer als gescheitert dargestellt. Ich glaube, die Ampel hat drei Jahre richtig gute Arbeit gemacht, aber das wird oft schlecht geredet. Die Ampel hat einen Corona-Haushalt übernommen mit riesigen Staatsschulden, die Wirtschaft war noch am Lahmen und wir haben Krieg in Europa.
Die Ampel hat es hinkriegt, uns innerhalb von weniger als einem Jahr komplett unabhängig von russischem Gas zu machen. Dabei hat sie noch die Ukraine unterstützt, das 9-Euro-Ticket eingeführt und dann das 49-Euro-Ticket draus gemacht, was sich die CDU nie getraut hätte. Die Ampel hat das BAföG erhöht, Wohngeld verbreitet und 30% mehr in die Bahn investiert. Und das alles bei angezogener Schuldenbremse.
Es wird ja oft so dargestellt, dass ein Politiker wissen muss, wie viel Butter kostet. Finde ich gar nicht. Aber jemand muss wissen, was es heißt, wenn du dir keine Butter leisten kannst.
Und dennoch prägten die letzten Monate harte Kritik an der Ampel. Warum? Wie kann man verhindern, dass so etwas auch in Zukunft passiert?
Der Deutsche an sich mag es ja zu meckern. Ich glaube ehrlich gesagt, dass es nicht besser geht. Wenn man sich heute anschaut, was die Zeitungen über Helmut Schmidt, Willy Brandt und Konrad Adenauer schreiben, ist es dasselbe. In der Retrospektive hat man vieles gut geredet. Merkel wird jetzt auch in den Himmel gelobt für Sachen, wo ich denke: „Puh“. Ich glaube auch, dass wenn wir jetzt einmal Merz als Kanzler haben, sich da die einen oder anderen noch mal umgucken werden, wie gut die Ampel eigentlich war.
Aber die Motivation für eine Partei, welche die Regierungsverantwortung weiter tragen will, muss es doch sein, jetzt politische Inhalte gut zu kommunizieren und nicht auf die Bilanz der Retrospektive zu warten, oder?
Ja, also Kommunikation ist schon wichtig, aber es gibt, glaube ich, nicht die eine Lösung. Dass wir daran arbeiten müssen, da bin ich sofort dabei, und ich glaube auch, dass wir da ganz viel Aufholbedarf haben. Der AfD alles nachzumachen und auf TikTok abzuhängen, kann aber auch nicht die Lösung sein. In der Demokratie ist es auch Aufgabe der Bürger, sich differenziert zu informieren und dabei auch mal einen Schritt zurückzugehen und nicht sensationellen Journalisten der Bild-Zeitung hinterherzulaufen, sondern sich auch zu überlegen, wer ihnen das denn gerade erzählt. Da wälzt man zu viel Verantwortung auf die Politiker ab, dass die uns jetzt mal mundgerecht sagen sollen, was sie gerade tun. Ich glaube, es ist auch eine gewisse Pflicht, als Bürgerin und Bürger zu sagen: „Okay, ich informiere mich mal und ich gehe da sowohl offen als auch kritisch ran.“ Ich habe da auch keine bessere Lösung. Das Problem ist komplexer, als zu sagen, der olle Scholz soll mal ein bisschen mehr Jugendsprache verwenden.
Nicht zuletzt auch junge Menschen schauen sorgenvoll in die Zukunft und wünschen sich ein wirtschaftlich stabiles Land. Die Inflation lag laut Statistischem Bundesamt im Dezember bei plus 2,6 % zum Vorjahresmonat, das Wirtschaftswachstum ist zum Vorjahr sogar um 0,2 % gesunken. Wie sieht der wirtschaftliche Kurs der SPD aus? Was kann sie mit Blick auf diese Zahlen versprechen?
Die Wirtschaft ist auch deswegen nicht in Gang, weil wir gerade keine Binnennachfrage haben. Und warum haben wir keine Binnennachfrage? Weil sich die Leute nichts leisten können. Wirtschaft ist in Deutschland schwierig, weil wir eine Exportnation sind. Wir haben in den letzten 20 Jahren, dank Merkel, verpasst, Trends mitzugehen. Jetzt rufen Konservative danach, das Verbrenner-Aus zu verschieben. Die Automobilindustrie fühlt sich dabei verarscht. Keine Sau kauft noch Verbrenner-Autos. China hängt uns ab. Wir als Exportnation erleben gerade, dass wir den Absprung verpasst haben. Das liegt auch daran, dass wir uns zu lange darauf verlassen haben, dass Dinge, die wir heute für wahr halten, für immer gelten.
Wir müssen die Bevölkerung empowern, unsere eigene Wirtschaft anzukurbeln.
Wir reden viel über die Vergangenheit, aber die Menschen interessiert, was der konkrete Plan der SPD ist. Wie bringt uns die SPD da raus?
Durch Stärkung der Binnennachfrage. Wir müssen erstmal eine Wirtschaft schaffen, die es ermöglicht, sich selbst aufrechtzuerhalten.
Und wie?
Indem wir faire Löhne zahlen. Wenn sich jeder was leisten kann und nicht die Hälfte des Lohns in die Miete geht, wenn man Vollzeit arbeitet und sich dann noch was leisten kann, vielleicht sogar in Urlaub fliegen kann, dann läuft die Wirtschaft auch wieder. Dann sagen die Leute natürlich wieder, dass die Lohnkosten so hoch sind und wieder alles teurer wird. Das wurde beim Mindestlohn auch gesagt und es ist nicht passiert. Darüber hinaus müssen wir die gewerkschaftliche Durchsetzung erhöhen. Wir brauchen mehr Tariflöhne, weil Tariflöhne faire Löhne sind, damit man auch mal einen Tag Urlaub haben und dann auch was konsumieren kann. Wir haben den größten Niedriglohnsektor Europas, was auch der Grund dafür ist, dass wir keine interne Nachfrage haben. Wir kaufen unser eigenes Zeug nicht. Unsere Wirtschaft ist abhängig von außen und das darf sie eigentlich gar nicht sein. Wir müssen sie unabhängig machen. Das heißt, es darf nicht mehr so schlimm sein, wenn der Bruttoexport nicht läuft. Es muss intern besser funktionieren. Wir müssen die Bevölkerung empowern, unsere eigene Wirtschaft anzukurbeln.
Rechtspopulismus erlebt momentan seine Blütezeit. Der Umfragerekord der AfD von rund 22 % vom Dezember 2023 ist fast wieder erreicht. Was unternehmen wir gegen Rechts? Wie erhalten wir die Brandmauer, auch mit Blick auf die CDU und die Abstimmung mit der AfD?
Ich weiß es nicht. Ich kann nur dagegenhalten. Ich kann nur sagen: „Das, was ihr fordert, ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.“
Parteiverbot?
Ja. Ich finde, wir sollten dem Bundesverfassungsgericht jetzt die Möglichkeit geben, das zu tun, bevor es zu spät ist. Ich glaube, einige wählen die AfD und denken, wenn sie so schlimm wäre, wie immer gesagt wird, wäre sie verboten. Zudem glaube ich auch, dass die AfD natürlich damit spielt, die Protestwahl zu sein. Und zum Thema Brandmauer: Da schwanke ich zwischen: „Ja gut, ist ja nicht so wichtig, das ist ja nur ein Antrag. Der hat überhaupt keine Bedeutung für die Regierungsarbeit.“ und „Krasser Tabubruch.“ Aber ich habe echt Angst. Ich will nicht die letzte Partei der Mitte sein.
Eine wichtige Frage, gerade für Studierende: Der Einstieg in ein selbstständiges Leben ist für junge Menschen nicht immer besonders leicht. In Heidelberg sehen wir einen massiven Anstieg der mittleren Nettokaltmiete pro Quadratmeter von 2015 bis heute um 42%. Zudem sind knapp 70 Prozent der Studierenden neben dem Studium erwerbstätig. Das zeigt, dass es junge Menschen finanziell oft nicht besonders leicht haben. Wie will die SPD junge Menschen dabei unterstützen?
Ich kenne das Problem. Ich habe auch immer neben dem Studium gearbeitet. Elternunabhängiges BAföG ist zum Beispiel eine Sache, die helfen könnte. Darüber hinaus brauchen wir mehr Wohnraum. Wir haben versucht mit dem Wohnungsbauministerium 400.000 Wohnungen im Jahr zu bauen. Hat nicht geklappt. Unter anderem wegen dem Krieg und den Baustoffpreisen. Das hätte man aber auch lösen können. Man hätte die Schuldenbremse lösen müssen, aber da hat eine Partei nicht mitgemacht. Die Jusos fordern eine WG-Garantie. Das kann man nur machen, wenn es genug Wohnungen gibt. Ich würde auch die WG-Garantie für Azubis und Studierende fordern. Grundlegend heißt das aber: Wir müssen bezahlbaren Wohnungen bauen.
Bezahlbaren Wohnraum schaffen ist leicht gesagt, aber ist das mit der schlechten Lage der Bauindustrie überhaupt möglich?
Dann musst du als Staat einfach Geld in die Hand nehmen und investieren. Dann macht man eben eine Landeswohnungsbaugesellschaft und haut da richtig viel Kapital rein. Und dann schafft man bezahlbare Wohnungen, die man hauptsächlich an junge oder bedürftige Menschen vergibt. Die Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro ist eben auch eine Sache, die viele Studenten entlasten kann, die neben dem Studium noch erwerbstätig sind. Studenten tun oft so, als wären sie nicht arm. Ich habe als Student unter der Armutsgrenze gelebt. Man gehört zu den Ärmsten in der Gesellschaft während der Studienzeit. Wie viele wissen eigentlich, dass sie Wohngeld kriegen können? Ganz wenige. Es gibt eine Menge Maßnahmen und Tools auf kommunaler Ebene. Und da kommt wieder die Kommunalpolitik ins Spiel, welche die Studierenden oft nicht interessiert, wobei sie dort richtig Cash abholen könnten.
Ein Narrativ aus der SPD begegnet einem in den letzten Wochen immer wieder: „Die Aufholjagd, die haben wir ja auch schon letztes Mal gewonnen.“ Das bezieht sich natürlich auf den Bundestagswahlkampf 2021, in dem die SPD innerhalb von einem Monat 5% aufgeholt, damit die CDU überholt und die Wahl gewonnen hat. Damals hatte die CDU ein gewaltiges Imageproblem, wenn wir beispielsweise an den lachenden Laschet denken. Warum ist sich die SPD so sicher, dass das auch dieses Mal wieder genauso funktionieren wird?
Wir hatten jetzt unseren Laschet-Moment. Weil Friedrich Merz Kanzlerkandidat ist und er es nicht geschafft hat, acht Wochen den Mund zu halten.
Also ist die Taktik zu gewinnen, weil der Gegner sich zerstört? Gibt es eine eigene Taktik?
Das ist das Kommunikationsproblem, das du angesprochen hast. Die Leute werden erst aufmerksam auf die SPD, wenn die anderen sich selbst zerlegt haben. Und ich glaube, dass sich die PR dann von selber macht, wenn sie merken, was für eine Politik Friedrich Merz macht.
Tim, sag uns doch mal in zwei Sätzen: Warum die SPD?
Weil die Sozialdemokratie schon immer für Aufstiegsversprechen steht, für Aufstiegsbiografien und für eine bessere Zukunft.
Und warum du?
Weil ich das verkörpere.
Das Interview führte Paul Böhringer
...studiert Politikwissenschaft und Germanistik an der Universität Heidelberg. Er ist Autor und veröffentlicht zusätzlich unter dem Künstlerpseudonym Paul B. Blue Musik. Seit November 2024 schreibt er für den Ruprecht über das Geschehen in der Politik und Kultur.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.