Lebst du noch oder shoppst du schon? Über Vintage-Kleingeldkäufe
Glosse
Wir alle tun es, jeden Tag. Es geht um die Frage der Fragen. Was ziehe ich heute an? Nie waren wir freier, genau das zu tragen, was wir wollen. Kein Kleiderknigge schreibt uns vor, beim Verlassen der Wohnung einen Hut aufzusetzen, kein Korsett schnürt uns den Atem ab und kein Bauch muss sich heute noch vor den Blicken seiner Umwelt verstecken. Fast Fashion ist ein alter Hut; umweltunfreundliche Modetrends von Ultra-Fast-Fashionbrands wie Shein & Co. haben in den letzten Jahren einen beispiellosen Aufschwung erlebt.
60 Kleidungsstücke kaufen deutsche Konsument:innen im Schnitt jedes Jahr; 40 Prozent der Kleidung wird laut Bundesumweltministerium nie oder nur selten getragen. Bei Gottfried Keller haben Kleider Leute gemacht. Heute machen Kleider Müll in Afrika, lila Flüsse in Asien und nach jedem Waschgang Mikroplastik im Abwasser.
Dabei ist das gar nicht notwendig – Kellers Novellenheld hat es uns doch schon vor langem vorgemacht: Es braucht weder Vermögen noch Shein, um sich außergewöhnlich gut zu kleiden. Wenzel Strapinski, Schneidergeselle und Prophet der preiswerten Haute Couture, hätte Vinted geliebt!
Denn: Wer heute eine weiße Weste haben will, schaut sich in Secondhandshops um. Als Gegenbewegung zu exzessiven, nicht- nachhaltigen Modetrends hat Secondhand- und Vintagekleidung bei den Deutschen stark an Beliebtheit gewonnen. Für das Jahr 2027 wird ein Wachstum auf knapp ein Fünftel des Gesamtmarktes prognostiziert. Modeliebende mit kleinem Budget und umweltbewusste Studis müssen hier den Gürtel weder enger schnallen noch auf den Gürtel verzichten.
Hier jagen Sparfüchs:innen jedem Rock hinterher; hier kann jede:r ein:e Schürzenjäger:in sein. Und das, ohne Herzen zu brechen oder groß der Umwelt zu schaden. Denn Vinted ist die umweltschonende Dating-App der Modeenthusiast:innen – minus Dating: Das neue Vintage-Outfit ist immer einen Swipe, pardon, Scroll entfernt, der Algorithmus schüttelt bei jedem Appbesuch deine „Best Matches“ aus dem Hut und bei jedem Like deiner Kleidungsstücke und Accessoires sind Dopamin-Kick und rosarote Brille vorprogrammiert.
Der Deutschen Devise besagt: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur falsche Kleidung. Und in den Briefkasten regnet es Kleiderpäckchen voller Glücksgefühle. Der Deckmantel der Ökologie und Ökonomie verleitet zu episodischem Schnäppchenschlagen. Bald passen die vielen kleinen Glückspäckchen mit secondhandgeshoppter Vintedware nicht mehr in den Briefschlitz und fluten den Flurboden. Sie verraten einen. Sie verraten mich.
Mein (Luxus-)Problem: Mein Kleiderschrank platzt regelmäßig; ebenso regelmäßig macht er die Bekanntschaft von neuen Nägeln und Holzleim. Wenn Einsicht tatsächlich der erste Schritt zur Besserung ist, dann gebe ich hiermit zu, im Kaufrausch ein VV (Vinted-Victim) zu sein.
Vielleicht wäre als Neujahrsvorsatz der Modetrend „Dopamin-Detox“ die Erlösung. Vielleicht begebe ich mich auch einfach auf die Suche nach einem anderen literarischen Modeopfer als Vorbild. In Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ ist man am Ende des Tages auch kleiderlos kaiserlich gekleidet …
Von Daniela Rohleder
...studiert Editionswissenschaft & Textkritik im Master und ist im Herbst 2021 beim ruprecht eingestiegen. Zwischen Oktober 2022 und November 2023 leitete sie das Ressort „Studentisches Leben“. Auch thematisch widmet sie ihr Zeichenlimit gerne dem studentischen Blick auf die Umwelt – wobei sie einiges über Radiosender, Feierkultur und Elternschaft gelernt hat.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.