Eine ethnologische Online-Dokumentation aus Heidelberg zeigt die Lebenswelten alter Menschen in Indien und Nepal
Seit 2013 forschen die beiden Heidelberger Ethnologinnen Annika Mayer und Roberta Mandoki zum Altern in modernen südasiatischen Megastädten. Während Mayer Feldforschung in Delhi im Norden Indiens durchführte, ließ sich Mandoki für eine Weile in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu nieder. So weit war alles üblich für die Ethnologie. Die beiden Doktorandinnen beschlossen jedoch, nicht nur eine gewöhnliche Dissertation zu schreiben. Sie wollten eine neue Art des wissenschaftlichen Arbeitens finden und nicht nur Notizen und ein paar Fotos mit nach Hause nehmen, sondern auch erzählte Geschichten, Gesichtsausdrücke, die Atmosphäre von Häusern und Wohnvierteln – und so eine ethnologische Arbeit schaffen, die für ein breiteres Publikum interessant sein wird. Deshalb hat der Filmemacher Jakob Gross die beiden Wissenschaftlerinnen für einige Zeit an ihren jeweiligen Forschungsorten begleitet.
Das fertige Projekt ist nun für jeden einsehbar: die interaktive Online-Dokumentation „elderscapes“. Der Neologismus „elderscapes“ bedeutet in etwa so viel wie ‚Lebenswelten des Alterns‘. In der städtischen Mittelschicht Indiens und Nepals, in der Mayer und Mandoki geforscht haben, sind gerade viele gesellschaftliche Normen dabei, sich zu verändern. So leben heute zunehmend weniger Menschen in der traditionellen Großfamilie, stattdessen entstehen neue Arten des Familienlebens. Alte Menschen, stellten die Ethnologinnen fest, erleben diesen Wandel nicht nur mit, sondern gestalten ihn auch selbst.
„Dass sich Senioren überhaupt als eigene Gruppe begreifen, ist etwas sehr Neues,“ sagt Mayer, die nach der Fertigstellung des Projekts nun ihre Doktorarbeit schreibt. „Elderscapes sind für uns soziale Räume, die sich ältere Leute selbst schaffen oder die für ältere Leute kreiert werden.“ Diese neuen Räume können nicht nur Altersheime oder Gemeindezentren sein, sondern auch ein Singlehaushalt oder einfach ein regelmäßiger gemeinsamer Spaziergang im Park.
In einer Mischung aus Kurzfilmen und Textbeiträgen kann der Besucher der „elderscapes“ diese Räume miterleben. Die verschiedenen Ebenen der Plattform sind unterschiedlich gestaltet und eröffnen dem Besucher ein buntes Kaleidoskop an Orten, Personen, Themen und Formaten. So kann man etwa älteren Herrschaften bei ihren morgendlichen Yogaübungen zugucken, sich Witze erzählen lassen oder einem pensionierten Lehrer über den Basar folgen. Man kann auch einer alten Frau dabei zuschauen, wie sie ihr Fotoalbum durchblättert oder aber mit 30 lärmenden nepalesischen Rentnern eine Busreise zu einer Pilgerstätte unternehmen. Wer zwischendurch mehr Hintergrundinformationen oder eine ethnologische Analyse des Geschehens erhalten möchte kann die Filme immer wieder für kleine Texte unterbrechen.
Damit ist die Online-Dokumentation alles andere als linear. Mayer findet, dass dieses Format der Komplexität der Feldforschung gerechter wird: „Dort ergibt sich ja nicht eins nach dem anderen, so wie man es am Ende aufs Papier bringt.“ Tatsächlich ist der Unterschied zwischen den üblicherweise stark theoretischen, ethnologischen Artikeln und den Kurzfilmen enorm.
In einem Veröffentlichung der beiden Doktorandinnen steht etwa zu lesen, Respekt gegenüber den Eltern sei eine starke ideelle Norm. Auf diese werde ständig Rekurs genommen, sie würde aber auch den Lebensumständen angepasst.
Im Filmausschnitt sieht das wiederum so aus: ein vierzigjähriger Sohn diskutiert auf einer Hochzeitsfeier mit seinem Vater, ob er und seine Frau noch bleiben sollten oder nicht.Der Vater sagt: „Bleibt nur, wenn ihr euch wohl fühlt.“ Der Sohn möchte offensichtlich gehen, hat aber ein schlechtes Gewissen. Er sagt, seine Frau müsse am nächsten Tag arbeiten, und fragt: „Darf ich sie nach Hause schicken?“ Die Frau bleibt stumm. Der Vater sagt, die Frau könne unmöglich alleine nach Hause fahren, es sei schon viel zu spät. Der Sohn blickt auf die Uhr und sagt: „Papa, es ist doch erst elf!“ Der Vater sagt: „Ich finde das sehr spät.“ Die Frau bleibt weiterhin stumm. Der Vater bietet an, sie nach Hause zu bringen und dann zurückzukommen. Der Sohn sagt, er wird das selbst tun. Die Frau nickt, der Vater nickt.
Rekurs und Anpassung sind zwar auf höchst amüsante Weise vollzogen worden, ob das jeder Zuschauer aber bemerkt, ist fraglich. Außerdem möchte man als Nutzerin beklagen, dass die Filmsequenzen teilweise langatmig oder fürs Auge uninteressant sind. Gleichzeitig liegt eine Stärke des Projekts gerade in den vielen Details, die nicht nur die Lebensansichten, sondern auch den Alltag der Interviewpartner begreiflich machen.
Christiane Brosius, die Betreuerin der Doktorandinnen, sieht in visuellen Methoden ein großes Potential für die Vermittlung von ethnologischem Wissen. „Unsere Sinne und Raumerfahrungen sind zentral für ein besseres Verständnis von komplexen Alltagswelten,“ erläutert die Inhaberin des Lehrstuhls für visuelle Anthropologie am Heidelberger Centrum für Transkulturelle Studien. Mayer erklärt, dass der Arbeitsaufwand für das Erstellen der Seite nicht zu vergleichen sei mit dem Schreiben einer Dissertation. „Es ist ein absolutes Herzblutprojekt,“ sagt sie. Für die beiden Ethnologinnen war trotzdem klar, dass ihnen weder eine wissenschaftliche Arbeit noch ein herkömmlicher Dokumentarfilm ausreichen würde. Sie glauben, dass sie über die kostenlose Webseite mehr Leute erreichen können. Und tatsächlich: die Interviewpartner aus dem Altersheim etwa haben sich gefreut, das Ergebnis zu sehen.
Von Hannah Bley
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