Eine Heidelberger Studentin war als Helferin im Flüchtlingslager Idomeni. Für den ruprecht schildert sie ihre Eindrücke.
Der Stacheldrahtzaun an der griechisch-mazedonischen Grenze wirkt von Weitem wie eine gewaltige, graue Schlange, die sich durch die grüne Landschaft Nordgriechenlands schlängelt. Als wir ihn am 25. Februar auf unserer Anreise erblicken, ist das mein erster Gedanke. Auf den ersten Blick irgendwie unscheinbar. Doch umso angsteinflößender, weiß man um das politische Kalkül seiner Errichtung und die vielen Menschen, deren Leben er durch seine Existenz zur Hölle auf Erden macht.
Die Entscheidung, nach Idomeni zu reisen, fiel erst zwei Wochen zuvor. Martin, mit dem ich reise, hatte zuvor in Berlin Kontakt mit anderen Freiwilligen, die um Unterstützung baten. Wir überlegten nicht lange und flogen auf eigene Faust nach Griechenland. Damals war Idomeni medial noch nicht präsent und die Situation an der Grenze erregte erst die Aufmerksamkeit der großen Nachrichten, als die Zustände im Camp ein Ausmaß nicht zu beschreibenden Elends erreicht hatten.
Hier am Grenzübergang stranden seit Ende letzten Jahres Tausende vor Krieg flüchtende Menschen, hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Die vielen Familien und Alleinreisenden durchlaufen ein undurchsichtiges Registrierungsverfahren. Am Ende dürfen aber nur wenige die Grenze passieren und so wächst das Camp täglich an. Als wir ankommen, ist die Rede von 12 000 Menschen, wenige Tage später sind es 15 000. Da Idomeni kein staatliches Camp ist, gibt es von offizieller Seite auch keine Unterstützung. Und so wird die gesamte Organisation und Versorgung der Menschen von humanitären Hilfsorganisationen und Freiwilligen aus ganz Europa gestemmt.
Idomeni ist Sinnbild für die humanitäre Katastrophe vor den Toren Europas
Das Camp in Idomeni überwältigt im ersten Eindruck durch seine schiere Größe, der Masse an Menschen, dem Gewusel der vielen Kinder, der Lautstärke, der Unscheinbarkeit des trotzdem so allgegenwärtigen Zaunes und letzten Endes der surrealen Alltäglichkeit. An unserem ersten Tag in Idomeni scheint die Sonne. Die kreuz und quer stehenden, dicht gedrängten Zelte ergeben ein buntes und lebhaftes Bild. Es herrscht reges Treiben. Kinder rennen umher, Familien sitzen vor ihren Zelten, andere stellen sich in einer langen Schlange, deren Ende nicht zu sehen ist, an einer der Essensausgaben an, Pressefahrzeuge verstopfen die Straße. Es ist laut, aber keine Aggressivität liegt in dieser Lautstärke. Das Treiben wirkt friedlich und alltäglich.
Das hatte ich nicht erwartet. Viel eher, dass in dieser akuten Notsituation, in der Bedrängnis und Angst die Menschen aggressiv, gewalttätig und außer sich sind. Bei so vielen verschiedenen Nationalitäten, Ethnien, Religionen und Sprachen auf so engem Raum und permanenter Knappheit an Lebensmitteln, medizinischer Versorgung und trockenen Schlafplätzen hatte ich mit dramatischen Szenen gerechnet. Dass ich nichts dergleichen beobachte, weckt in mir tiefen Respekt für die Geduld und Solidarität der Menschen unter- und miteinander und gleichzeitig eine Traurigkeit, die nicht mit Worten zu beschreiben ist. Wir entscheiden vor Ort, uns einer Gruppe anzuschließen, die sich Aid Delivery Mission nennt, einem Kollektiv aus unabhängigen Freiwilligen aus ganz Europa. Sie kochen täglich für 8000 Menschen warme Mahlzeiten. Auf einem Grundstück, zehn Minuten vom Camp entfernt, zelten wir mit etwa 70 jungen Menschen zusammen und organisieren von hier aus die Unterstützung. Morgens kommen Trucks mit kiloweise Gemüse, finanziert aus privaten Spenden und gekauft im Umland. Die Mengenangaben sind kaum zu greifen – an einem Tag verarbeiten wir an die zwei Tonnen Gemüse und Reis zu einer dickflüssigen Suppe, die wir nachmittags bis in die Nacht hinein im Camp verteilen.
An anderen Tagen bauen wir Großraumzelte, unterstützen politische Protestaktionen, verteilen Hilfsgüter und sprechen mit den Menschen im Camp. Ein 16-jähriger Junge zeigt mir ein Video seiner Überfahrt nach Griechenland auf dem Schlauchboot. Ein Vater erzählt mir die Geschichte seiner Flucht und wie er seine dreijährige Tochter dabei verlor. Eine Mutter liegt völlig erschöpft, mit einer frischen Kaiserschnittnarbe und ihrem neugeborenen Kind in ihrem dreckigen Zelt. Es sind die Geschichten dieser einzelnen Schicksale, welche die ganze Situation so unerträglich machen. Idomeni ist Sinnbild für die humanitäre Katastrophe vor den Toren Europas. Nicht eine unabwendbare Naturkatastrophe hat die Menschen in diese Situation gebracht. Sondern eine Aneinanderkettung politischer Entscheidungen, an deren Ende die Errichtung eines kilometerlangen, meterhohen und stacheldrahtbesetzten Zauns steht. Diese Realität zu fassen, fällt mir bis heute schwer.
Als nach ein paar Tagen ein nicht aufhörender, peitschender Regen hereinbricht und die Temperaturen unter 10 Grad fallen, bricht die Hölle los. Die kleinen Zelte versinken im Wasser und Schlamm und wir sind tagelang damit beschäftigt, trockene Klamotten und Schuhe an die durchnässten Menschen zu verteilen, aber es gibt von allem zu wenig. Ein voller Karton mit Kindergummistiefeln ist viel zu schnell leer und am Ende stehen immer noch zwanzig Kinder um mich herum, barfuß oder mit völlig durchnässten Turnschuhen. Die Menschen kommen nicht mehr zur Essensausgabe, weil der Regen zu stark ist. So laufen wir mit Bechern heißer Suppe durch das Camp und verteilen sie an Familien. Wir klopfen an Zelte, aus denen wir Kinder hören. Es ist erbarmungslos, wie viele Menschen in diesen Tagen krank werden. Fast jedes Zelt, in das ich schaue, beherbergt ein fiebriges, hustendes Kind und seine verzweifelten Eltern.
Viele der Dinge, die ich erlebe, verarbeite ich erst Wochen später
Viele der Dinge, die ich in diesen Tagen erlebe, verarbeite ich erst Wochen später. Zum Nachdenken bleibt in dieser Notsituation keine Zeit. Die Sachlichkeit, mit der in Brüssel über das Leben von Millionen Menschen diskutiert wird, lässt vergessen, dass hinter all den Zahlen und Fakten einzelne Geschichten, Schicksale und Träume stehen. Machtlos ist man in Idomeni vor allem gegen zwei Kräfte: das Wetter, und die Entscheidungen der EU. Der Türkei-Deal wird in der Zeit verabschiedet, in der wir in Idomeni sind. Nach zwei Wochen, am Tag unserer Abreise, bleibt das Gefühl der Hilflosigkeit. Niemand hier kann die Räder der politischen Maschinerie in Bewegung setzen, die Grenzen öffnen und damit das Elend der Menschen beenden. Kochen und Zelte bauen ändert leider gar nichts, eher im Gegenteil: Denn je mehr freiwillige Unterstützung Idomeni erfährt, desto mehr ziehen sich die Staaten aus der Verantwortung, für die Menschen zu sorgen. Solange niemand verhungert oder erfriert, gibt es keine dringende Notwendigkeit, zu handeln.
Da wir aber absolute humanitäre Grundversorgung leisten, steht das Ende der Hilfe nicht zur Debatte. Die Folgen hätten die Flüchtenden zu tragen. Es ist ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Außer: Weiter aufstehen, weiter Bewegungsfreiheit und Schutz für alle Menschen fordern, nicht nachlassen und nicht aufgeben.
Viele Menschen reisen in diesen Tagen mit Bussen in andere Camps, in der Hoffnung, dort bessere Bedingungen vorzufinden. Viele werden wieder zurückkommen. Die Bedingungen in staatlichen Militärcamps seien zum Teil noch schlechter als in Idomeni und hier bleibt den Menschen ein letzter Rest Freiheit und Würde. Weil das Militär im Camp nicht allgegenwärtig ist, weil der Blick auf die andere Seite des Zaunes Hoffnung macht und nicht zuletzt, weil sich hier ein solidarisches Netzwerk aus Menschen gebildet hat, die sonst nie aufeinander getroffen wären. Diese Notsituation hat Freundschaften und tiefe Verbundenheit entstehen lassen.
Und genau diese Menschlichkeit ist es, die uns Mut machen und uns zum Handeln antreiben muss. Menschlichkeit, und nicht geschlossene Grenzen.
Von Clara Graulich
[box type=“note“ ]Clara und Martin sind derzeit erneut in Idomeni. Alles darüber erfahrt ihr auf ihrer Facebookseite „Neues aus Idomeni“.[/box]